Die Integrationserfahrungen einer russischen Lehrerin
von Arabella Vogel
Wenn man vom Westen her auf der A4 nach Jena einfährt, sieht man als erstes sich scheinbar endlos erstreckende Plattenbauten. Für viele, die in der Saalestadt leben, ist Lobeda fast schon eine andere Welt, denn nichts erinnert an die hübschen Villen in Jena-West und die gepflegten Straßen der Innenstadt. Bedenkt man, wer in Lobeda wohnt – neben Studenten vor allem Russland-Deutsche, Ausländer, Migranten – stellt sich schnell die Frage nach einer Zweiklassengesellschaft.
Insgesamt ist die Zahl der in Jena lebenden Ausländer ziemlich gering, wenn auch der Ausländeranteil der Stadt steigt: Seit 1991 wuchs die Quote von 0,9 auf ca. 4,5 Prozent. Insgesamt leben in Jena zur Zeit 8.500 Migranten; knapp 5.000 von ihnen sind Ausländer, besitzen also nicht die deutsche Staatsbürgerschaft.
Eine aus dieser Gruppe ist Ludmila aus Moskau. Die Russin und ihr Mann kamen vor drei Jahren aufgrund seiner gesundheitlichen Probleme nach Deutschland. Dieses Motiv zur Einwanderung ist verbreitet, genauso wie die Hoffnung auf bessere Bildungschancen und Arbeit.
Deutsch lernen ist selbstverständlich
„Wichtig ist es, Bildung zu ermöglichen.“, erklärte Dörthe Thiele in einem Vortrag über die Strategien der Stadt Jena zur Integration von Migranten. Denn nur durch Bildung könne man ihre Definition von einer gelungenen Integration erfüllen: die gleichberechtigte Partizipation am Chancenangebot in zentralen Bereichen der Gesellschaft.
Ludmila bestätigt die Auffassung der Integrationsbeauftragten: „Wichtig ist für mich, dass ich teilhaben kann. Dass ich in den Läden einkaufen kann oder Freunde hier habe, mit denen ich sprechen kann. Dass ich Deutsch lerne, damit ich ins Theater oder ins Kino gehen kann. Und das ist für mich hier auch ganz selbstverständlich.“ Darum fühle sie sich in Jena auch so wohl und ist sehr froh über ihren „unbefristeten“ Aufenthalt.
Ludmilas Einstellung zum Sprach-Erwerb ist jedoch nicht selbstverständlich: „Die häufigsten Gründe für das Scheitern von Integration sind mangelnde Sprachkenntnisse und unzureichende Bildung oder ein nicht anerkannter Bildungsabschluss.“, berichtet Dörthe Thiele. Für Ludmila trifft ersteres nicht zu: Sie spricht zwar mit Akzent und mit kleinen Problemen, aber insgesamt gut Deutsch. Auch hat sie eine solide Ausbildung erhalten – in Russland ist sie Englischlehrerin gewesen. Das Problem ist jedoch, dass ihr Abschluss in Deutschland nicht anerkannt wird. Wollte sie nun hier unterrichten, müsste sie ihre gesamte Ausbildung erneuern – und Ludmila ist bereits 60 Jahre alt.
Doch sie sitzt nicht untätig zu Hause herum: Sie ist die ehrenamtliche Leiterin eines Tanztheaters für russischsprachige Kinder. Während der Unterrichtsstunden wird ausschließlich Russisch gesprochen, wohingegen die Theaterstücke, die Ludmila selbst schreibt, auf Deutsch aufgeführt werden. „Ich lerne Deutsch von den Kindern, das hilft mir sehr“, meint sie.
Doch nicht nur Sprach-Erwerb ist für ein gelungenes Zusammenleben von Bedeutung. „Wichtig ist es auch, Rassismus abzubauen.“, so Dörthe Thiele. Nach ihren Erfahrungen mit Anfeindungen oder Fremdenhass gefragt, verneint Ludmila: „Nicht gegen uns. Sonst sehe ich viel Rassismus, aber wir Russen werden in Ruhe gelassen.“
Insgesamt mag sie Jena sehr: „Jena ist eine Studentenstadt und dass hier so viele junge Leute sind, gefällt mir. Und mein Ehemann bekommt eine gute medizinische Behandlung, das ist ebenfalls sehr wichtig für uns.“
Und dennoch fällt ein kleiner Schatten auf Ludmilas Leben – sie würde gern eingebürgert werden. Das ist allerdings erst möglich, wenn sie acht Jahre in Deutschland gelebt hat und nicht mehr vom Sozialgeld abhängig ist
Und dass, obwohl sie sich längst in Jena heimisch fühlt und damit rechnet, noch ihr ganzes Leben hier zu verbringen.
Arabella Vogel (15) besucht die 10. Klasse des Christlichen Gymnasiums in Jena. Im Herbst 2012 unternimmt sie im Rahmen eines Schulprojekts mit ihrer Klasse eine dreiwöchige Reise nach Chile. Sie war Praktikantin der unique-Redaktion.
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