Die Nationalsozialisten setzten in ihrer Gesundheitspolitik sozialdarwinistische Ideen um. Dazu gehörte, Patientinnen und Patienten mit „Erbkrankheiten“ zwangsweise einzuweisen und zu sterilisieren. Eine Spurensuche in der Universitätspsychiatrie in Jena.
von Kristin Tolk
Im Sommer 1936 kam die 32-jährige Gesine Watzner* in die Jenaer Universitätspsychiatrie. Die unverheiratete Frau arbeitete in Weimar als Schreibgehilfin im Innenministerium und war zunächst weder ihrem Arbeitgeber noch anderen nationalsozialistischen Behörden aufgefallen. Ein Amtsarzt des Staatlichen Gesundheitsamtes für den Stadtkreis Weimar hingegen vermutete eine schizophrene Erkrankung und wies sie umgehend in die Psychiatrie ein, wo die Ärzte den Verdacht bestätigten. Für Watzner hatte die Diagnose Mitte der 1930er Jahre zweierlei zur Folge: Zum einen wurde sie gegen ihren ausdrücklichen Willen in der Klinik festgehalten und therapiert. Zum anderen stellten die Jenaer Psychiater kurz nach ihrer Aufnahme in der Klinik einen Antrag auf die Sterilisation ihrer Patientin, die ein knappes halbes Jahr später in der benachbarten Frauenklinik erfolgte.
Die juristische Grundlage dafür bildete das am 1. Januar 1934 in Kraft getretene „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“. Es definierte neun psychische und neurologische Erkrankungen beziehungsweise körperliche und geistige Behinderungen als „Erbkrankheiten“, deren Verbreitung es zu verhindern galt. Damit legalisierten die Nationalsozialisten Zwangssterilisationen und sprachen zahlreichen Menschen das Recht auf eine selbstbestimmte Fortpflanzung ab. Betroffen waren beispielsweise Menschen, die seit ihrer Geburt an Epilepsie litten, blind oder taub geboren worden waren oder schwer alkoholsüchtig waren. Zudem fielen die psychischen Störungen, die wir heute unter Chorea Huntington, Schizophrenie und Bipolare Störung kennen, unter das Sterilisationsgesetz. Dem Großteil der betroffenen Menschen wurde allerdings „Angeborener Schwachsinn“ bescheinigt – eine absichtlich schwammig definierte „Diagnose“, die im Kern eine angeborene Intelligenzminderung beinhaltete.
Im Fokus der Rassenhygiene
Diese sowie fünf weitere der gesetzlich verankerten „Erbkrankheiten“ galten zeitgenössisch als psychiatrisch-neurologische Störungen. So fand reichsweit eine intensive Zusammenarbeit zwischen Gesetzgeber, Justiz und Psychiatrie statt. Im Gegensatz zu anderen Medizinern, wie Internisten oder Chirurgen, standen Psychiater in den beginnenden 1930er Jahren therapeutisch so unzulänglich vor ihren Patientinnen und Patienten wie im Kaiserreich. Zudem waren sie ebenso wie die NSDAP und weite Teile der gesellschaftlichen Eliten mehrheitlich von der idealisierten Vorstellung eines „gesunden Volkskörpers“ überzeugt. Sie teilten die seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert kursierenden sozialdarwinistischen Ideen, nach denen die ursprünglich nur biologische Evolutionstheorie auf die Gesellschaft zu übertragen sei.
Wie viele Fachkollegen bemühten sich auch die Jenaer Psychiater um die Legitimation ihrer Disziplin: Sie meldeten zahlreiche Patientinnen und Patienten der Jenaer Universitätspsychiatrie mit „Erbkrankheiten“ zur Sterilisation. Überdies fertigten sie gegen Gebühr Gutachten für Sterilisationsverfahren an, zu denen sie von den eigens geschaffenen, überdurchschnittlich zahlreichen Erbgesundheitsgerichten aufgefordert wurden, an denen sie selbst als Richter agierten. So wurden sie zu einem integralen Bestandteil einer besonders stark ausgeprägten Rassenhygiene in Thüringen, wo sich bereits unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg eine gut vernetzte völkisch-nationalistische Szene etabliert hatte. Überdies kam mit Verabschiedung des Sterilisationsgesetzes im Sommer 1933 der Münchener Sportmediziner Karl Astel nach Weimar und leitete fortan das speziell dafür eingerichtete „Landesamt für Rassewesen“, das ihm weitreichende Möglichkeiten bot, die nationalsozialistische Gesundheitspolitik umzusetzen.
Die Interessen der betroffenen Menschen spielten für ihn und die Jenaer Ärzte kaum eine Rolle. So auch bei Gesine Watzner, die zunächst nichts von ihrem Sterilisationsverfahren erfuhr, während die Psychiater die junge Frau in der Klinik therapierten – unbeeindruckt davon, dass sie sich sträubte, nach Hause wollte und sich häufig gereizt oder aggressiv gegenüber den Medizinern zeigte. Schließlich beschloss das Erbgesundheitsgericht Weimar im Dezember 1936 Watzners Sterilisation. Auch wenn ein solcher Beschluss im Sinne des NS-Regimes war, sollte aus Sicht der nationalsozialistischen Gesetzgeber ein Sterilisationsverfahren keinesfalls so ablaufen wie bei der Schreibgehilfin, die ausgerechnet im dafür zuständigen Innenministerium gearbeitet hatte. Denn im Gegensatz zum späteren systematischen Mord an Psychiatriepatientinnen und -patienten, strebten die Nationalsozialisten bei den Zwangssterilisationen die Zustimmung der Bevölkerung an. Sie begleiteten die Gesetzesnovelle mit einer umfangreichen Propagandakampagne, zu der Vorträge, Filme und Plakate gehörten. Doch schon bald zeigte sich, dass viele Menschen das Sterilisationsgesetz trotzdem ablehnten, auch in Thüringen.
Nicht zuletzt deshalb forderte das Reichsjustizministerium die Erbgesundheitsgerichte wiederholt auf, alle betroffenen Menschen in den Verhandlungen über ihre Sterilisation anzuhören und somit das Gefühl zu vermitteln, ihre Belange seien ausreichend vertreten.
Gesine Watzner erfuhr im Herbst 1936 trotzdem zunächst weder vom Antrag auf ihre Sterilisation, noch ihren eigenen Verhandlungstermin. Als es ihr ein Familienangehöriger kurz vor Weihnachten schließlich mitteilte, lastete sie das der Psychiatrie an; immer wieder bat sie Familienangehörige, sie aus Jena wegzuholen. Zwei Tage vor Weihnachten 1936 schrieb Watzner ihrer Mutter hoffnungsvoll, eines ihrer sechs Geschwister werde sich für sie „beim Führer“ einsetzen. Denn an das NS-Regime glaubte sie nach wie vor. Sie ahnte wohl nicht, dass es vor allem bei Frauen Zwangssterilisationen rigoros vorantrieb. Die junge Frau hoffte aber nicht nur bei Adolf Hitler auf Hilfe, sondern auch bei ihren Weimarer Vorgesetzten: Ihren Weihnachtswünschen ans Innenministerium fügte sie die Bitte hinzu, ihre Entlassung aus der Psychiatrie zu veranlassen.
Die eindrücklichen Briefe erreichten nie ihre Adressaten, denn die Jenaer Psychiater hefteten sie in Watzners Krankenakte ab. Selbst den Wunsch, die Sterilisation wenigstens nicht in Jena, sondern in der Nähe ihres Elternhauses durchführen zu lassen, nahmen sie nicht an. Stattdessen verlegten sie Watzner Ende Januar 1937 in die Jenaer Universitätsfrauenklinik, wo sie kurz darauf sterilisiert wurde. Am 22. Februar 1937, fast auf den Tag genau sechs Monate nach ihrer Einweisung, wurde Gesine Watzner von einem ihrer Brüder abgeholt. Nie wieder kehrte sie zu den Jenaer Psychiatern zurück.
Späte Anerkennung und Entschädigung der Opfer
Ihre Patientengeschichte ist nicht nur ein Beispiel für die lange Zeit ignorierten individuellen Erfahrungen der Opfer, sondern macht auch sichtbar, wie intensiv die verschiedenen medizinischen und juristischen Institutionen zusammenarbeiteten. Die Jenaer Psychiater, die an mehr als zehn Prozent der rund 14.000 Zwangssterilisationen in Thüringen beteiligt waren, sind mehrheitlich der großen Gruppe von Wissenschaftlern im Nationalsozialismus zuzuordnen, die sich „im Dienst an Volk und Vaterland“ sahen. So fügten sich die Jenaer Universitätspsychiater mit der weitreichenden Umsetzung des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ in die rassenhygienischen Forderungen einer nationalsozialistischen Gesundheitspolitik ein, die das individuelle Wohlergehen von Patienten und Patientinnen wie Gesine Watzner vollkommen ignorierte.
Auch nach 1945 sollte der Leidensweg zwangssterilisierter Menschen noch andauern; zunächst verweigerten ihnen die beiden deutschen Staaten Anerkennung und Entschädigung als NS-Opfer. In der DDR kamen diese vor allem politisch Verfolgten und Widerstandskämpfern zugute, die im In- und Ausland „aktiv gegen den Faschismus“ gekämpft hatten. Die Anliegen der von Zwangssterilisationen betroffenen Menschen stießen hingegen bis 1989 auf Ablehnung, denn der ostdeutsche Staat stufte ihr Leiden nicht als politisch motiviert ein. Die Bundesrepublik bewertete das Sterilisationsgesetz zunächst nicht als nationalsozialistisches Unrecht, sondern als rechtsstaatliche Norm. Die Vorstellungen von Legalität und Legitimität des Sterilisationsgesetzes begannen dort Ende der 1950er Jahre langsam zu bröckeln. Aber erst der gesellschaftliche Wandel im Umgang mit behinderten und kranken Menschen in den 1970er sowie einzelne Initiativen in den 1980er Jahren brachten den zwangssterilisierten Menschen Anerkennung, Rehabilitation und finanzielle Entschädigung. Für die Mehrheit der Betroffenen war das zu spät und eine nachfolgende Generation war ihnen verwehrt geblieben.
* Name geändert
Kristin Tolk studierte 2007 bis 2010 Geschichte, Medien- und Kommunikationswissenschaft an der Universität Leipzig und absolvierte 2010 bis 2013 den Master Geschichte und Politik des 20. Jahrhunderts an der Universität Jena. Sie verfasste zur Geschichte der Jenaer Psychiatrie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ihre Dissertation und unterstützte den Jenaer „Arbeitskreis Sprechende Vergangenheit“ bei einer Ausstellung über nationalsozialistische Medizinverbrechen in Jena.
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