Das Jahr 1924 stellte in der Geschichte der jungen Sowjetunion nicht nur durch den Tod Lenins einen Einschnitt dar, es veränderte auch das Leben Michail Bulgakows maßgeblich. Es machte ihn berühmt bei Kritikern, deren Aufmerksamkeit er wenige Jahre später bereuen sollte.
von Sebastian Baum
Den Kittel für immer in den Schrank hängen
1921, nach dem Ende des russischen Bürgerkrieges, entschied sich Michail Bulgakow Schriftsteller zu werden. Vorher als Militärarzt auf allen Seiten zum Mitkämpfen gezwungen, zog er nach Moskau und ließ seinen Kittel (für immer) im Schrank hängen, obwohl dies mit vielen Entbehrungen einherging, denn die Anfänge als Autor waren zehrend. Zunächst verfasste er journalistische Arbeiten und Kurzgeschichten, schrieb auch seine Vorkriegserlebnisse als junger Arzt in der Provinz nieder und arbeitete am Theater. Er lebte sehr ärmlich, vor allem verglichen zu seiner gutbürgerlichen Jugend in Kiew. Dennoch hielt er an seinem Entschluss fest, sein Leben dem Schreiben und dem Theater zu widmen. Seine Eindrücke hielt er in einem Tagebuch fest:
- Januar 1922: „… bin noch immer ohne Stellung. Meine Frau und ich ernähren uns schlecht. Dadurch hat man auch keine Lust zum Schreiben. Schwarzbrot kostet 20 T. pro Pfund, Weißbrot…“
- Januar 1922: „Bin in ein Kollektiv von Wanderschauspielern geraten, werde am Stadtrand spielen. Gage 125 pro Vorstellung. Das ist mörderisch wenig. […] Meine Frau und ich nagen am Hungertuch.“
- Februar 1922: Es ist die schlimmste Zeit meines Lebens. Meine Frau und ich hungern. Ich musste mir vom Onkel ein bisschen Mehl, Öl und Kartoffeln borgen.“
Als sich die Lage in der jungen Sowjetrepublik stabilisierte, fand Bulgakow bessere Anstellungen, hatte finanziellen und gesellschaftlichen Rückhalt und mehr Zeit zum Schreiben. 1924 erschien dann sein erster großer autobiografischer Roman über die Wirren des Bürgerkrieges in der Ukraine – Die weiße Garde. Dessen Protagonisten sind die Turbins, drei Geschwister, deren Mutter zu Beginn des Werkes dem Vater in den Tod folgt und die von diesem Punkt an allein den Wirren des Jahreswechsels von 1918 zu 1919 gegenüberstehen. Alexej, der Älteste unter ihnen, ist Arzt, sehr offensichtlich Bulgakows Stand-In, und nach seinem Eintritt in die Freiwilligenarmee direkt mit den Auswirkungen des Abzugs der Deutschen aus Kiew nach deren Kapitulation am Ende des großen Krieges konfrontiert. Alle ranghohen Offiziere desertieren in Nacht-und-Nebel-Aktionen vor der republikanischen Armee Petljuras und überlassen ihre Untergebenen ihrem Schicksal. Ähnlich zu Alexej ergeht es dem jüngeren Bruder Nikolka, der als 17-Jähriger Kadett an den Straßenkämpfen in Kiew beteiligt ist. Das mittlere Kind, die 22-Jährigen Jelena wird von ihrem Ehemann, ebenfalls hoher Offizier, zu Beginn des Romans fluchtartig verlassen. Zusammen mit Freunden durchstehen die Turbins den Winter bis zum Einmarsch der Roten Armee im Februar 1919.
Auf dem literarischen Feld vernichtet
Der Stoff des Romans wurde von Bulgakow zu einem Theaterstück umgearbeitet, Die Tage der Turbins, welches sein weiteres Schaffen in der jungen Sowjetunion maßgeblich bestimmen sollte. 1926 uraufgeführt und zunächst positiv aufgenommen, wurde es 1929 verboten, aufgrund kleinbürgerlicher Tendenzen – waren die Protagonisten doch eine Kiewer Offiziersfamilie, mit deren Problemen der Leser/Zuschauer klar sympathisieren soll. Verboten, obwohl das Theaterstück bereits Änderungen besitzt, welche definitiv an die Erwartungshaltung des Sowjetregimes angepasst wurden, zum Beispiel die (noch) positivere Darstellung des Einrückens der Roten Armee am Ende des Stückes und der Entschluss einiger Offiziere dieser beizutreten. Die Kritiker „zerschrieben“ auf einmal das Stück, dass sie zuvor noch feierten, ein Ereignis, welches Bulgakow in seinem bekanntesten und zugleich wichtigsten Werk – Der Meister und Margarita – in Form systemtreuer Literaturkritiker aufarbeitete. Er selbst wandte sich schriftlich am 28. März 1930 an die Regierung der UDSSR und teilte mit, dass er auf dem literarischen Feld vernichtet wurde.
Trotz dieser Schmähungen fand er einen (im wahrsten Sinne des Wortes) „entscheidenden“ Bewunderer – Stalin. Er soll sich Die Tage der Turbins 15 Mal angesehen haben und Bulgakow, vor allem zur Zeit der großen Säuberungen, vor Schlimmerem geschützt haben. Stalin rief ihn sogar persönlich im April 1931 an, nachdem Bulgakow seine Stelle am Theater aufgrund der Kritiken verloren hatte. In einem persönlichen Brief nach dem Telefonat versicherte er Stalin noch einmal: „Ob das sowjetische Theater mich braucht, weiß ich nicht, aber ich brauche das sowjetische Theater wie die Luft zum Atmen.“ Wie in Die Weiße Garde verarbeitete er seine Erlebnisse literarisch in Das Leben des Herrn Molliere, einer Erzählung über den französischen Komödienschreiber des 17. Jahrhunderts, dessen gesellschaftskritisches Schaffen nur unter der Patronage Ludwig des XIV. möglich gewesen sein soll. Ein Spiegelbild zu Bulgakows eigener Autorschaft.
Seine Werke konnten nach Stalins Intervention zwar wieder gespielt bzw. veröffentlicht werden, das aber lediglich in zensierten Fassungen. Auch seine neue Anstellung am Theater als Regieassistent nach dem schicksalhaften Telefonat linderte seine finanziellen Nöte nur teilweise. In den letzten Jahren seines relativ kurzen Lebens (er starb im Alter von 48 Jahren) war er zusätzlich zu seinen prekären Einkünften durch eine schwere Erkrankung eingeschränkt, einer Nierenschädigung aufgrund langanhaltenden Bluthochdrucks. Dem allem zum Trotz arbeitete er kontinuierlich bis zu seinem Tod am März 1940 an Der Meister und Margarita.
Ein prophetisches Manuskript
Der Roman wurde erst lange nach Stalins Tod, im Jahr 1966 in der Literaturzeitschrift Moskwa veröffentlicht. Dabei brach ein regelrechter Bulgakow-Boom in der Sowjetunion und auch in anderen Ländern des Warschauer Paktes wie der DDR aus. Viele seiner Werke wurden, wenn auch teilweise noch zensiert, neu aufgelegt und vermittelten das Gefühl, dass der literarische Funken alle Verbote überdauern kann. Gerade durch diese Vorstellung war Der Meister und Margarita prophetisch, verkündigte er doch, dass „Manuskripte nicht brennen“, während das Romanmanuskript selbst den Zweiten Weltkrieg und die Zeit Stalins überlebte. Sogar die Teile des Romans, die dem Zensor zum Opfer fielen, fanden handschriftlich als „Samisdat“ (selbstständig und inoffiziell vervielfältigte und von Hand-zu-Hand weitergegebene Schriften) eine große Verbreitung. Sie sind ein Indiz dafür, dass auch innerhalb totalitärer Systeme bei Weitem nicht eine solche Gleichschaltung herrscht, wie man es von innen und außen in sie hineinprojiziert.
Worum geht es im Meister und Margarita eigentlich? Die Handlung der Satire ist vielschichtig, lässt sich aber auf drei Handlungsebenen zusammenfassen, die zum Ende hin alle zusammenführen: Die Erste beschäftigt sich mit dem Erscheinen des Teufels Voland im Moskau der 1930er Jahre und dem Aufeinandertreff en seiner dämonischen Entourage mit der Gesellschaft der jungen Sowjetunion, vor allem aber angepassten Literaten, korrupten Hausvorstehern und Devisenhortern (in der Sowjetunion war das Verstecken von ausländischem Geld verboten). Die Zweite befasst sich mit dem selbsternannten Meister, einem Schriftsteller und Ex-Historiker, dessen Roman über Pontius Pilatus von den atheistischen Literaturkritikern Moskaus zerrissen wurde. Von Ängsten verstört, den Säuberungen zum Opfer zu fallen, lässt er seine Geliebte zurück und weist sich selbst in eine Nervenheilanstalt ein. Besagte Geliebte, Margarita, versucht, ihn zu finden, denn er verließ sie ohne ein Wort über seinen Verbleib. Die dritte Handlungsebene zeigt das Aufeinandertreffen von Pontius Pilatus mit Jesus (bzw. einer Jesus-ähnlichen Figur) vor dessen Hinrichtung und die Reue, die der Statthalter danach für sein Nicht-Eingreifen empfindet. Diese Kapitel entpuppen sich als Auszüge des Romans vom Meister. Sie werden über die Handlungsebene des Teufels wiederum in der Realität des Romans verortet, war er doch als Zeuge des zweifelnden Pilatus anwesend. Die verschiedenen Ebenen üben verschiedentlich Kritik an der Gesellschaft. Die Handlung rund um die Figur des Teufels zeigt, dass die Sowjetunion nicht das Ende des menschlichen Egoismus einleitete. Vielmehr brachte sie neue Arten von Günstlingen und Egoisten hervor. Die Geschichte des Meisters versinnbildlicht die Folgen, die Zensur und Verbote auf einen Künstler haben. Und am Fall von Pontius Pilatus wird die Frage aufgeworfen, ob Politiker ihre eigenen moralischen Zweifel aus politischem Drang oder Kalkül feige „über Bord werfen“ sollten. Alles zeitlos aktuelle Phänomene. Deshalb soll dieses Kurzportrait Bulgakows Anregung sein, sich mit seinen Werken und allem voran dem Meister und Margarita zu befassen, – entweder in seiner Romanversion (beide Übersetzungen sind zu empfehlen) oder aber in der Theateradaption, die ab dem 11. Januar 2025 wieder im DNT Weimar aufgeführt wird! Um selbst vielleicht den Teufel oder den Meister, Pilatus oder doch Margarita in sich selbst zu entdecken.