von Sandra Jörges
Auf ihrem Nachttisch gleich neben dem Bett des kleinen Raums, den sich Frau T. mit einer Bewohnerin teilt, steht ein gerahmtes Foto. Im Zimmer riecht es so streng, dass man sofort die Fenster aufreißen möchte. Kein Sofa, kein Tisch, keine Bilder an den Wänden, nichts, was eine behaglichere Atmosphäre schaffen würde. Allein die Vorhänge in dunklem Grün sind Farbkleckse in dieser Welt des Vergessens, in der Welt der Demenz. Es wirkt, als hätten die Bewohner der Etage 2 kein Leben geführt, bevor sie hier, unberührt von der Hektik außerhalb der Mauern, immer tiefer in ihrer Gedankenwelt versanken.
Nur dieses eine gerahmte Bild steht einsam im Zimmer von Frau T. Es macht traurig, weil es das Einzige ist, das dem Raum eine kleine persönliche Note verleiht. Es zeigt einen jungen Mann um die 30 mit vollem, dunklen Haar und eindrucksvollen Augen. Es ist ein schöner Mann. Er schaut in die Kamera mit einem Blick, der bereits alles gesehen zu haben scheint. Er wirkt wie jemand, mit dem man gern ein Gespräch geführt hätte.
Schwester Stefanie ist 27 Jahre alt und damit nicht einmal halb so alt, wie die Bewohner, die sie betreut. Ihre Haare haben den Schwarzton, der rot aufleuchtet, wenn das Licht der Entreelampen der Zimmer auf sie fällt. Heute Nacht ist sie allein verantwortlich für alle 53 Demenz-Bewohner auf Etage 2.
Kein Platz für Melancholie
Der Pflegewagen lässt sich schwer schieben, aber das gibt Schwester Stefanie die Möglichkeit, vor jedem Eintritt in ein Zimmer die Lebensgeschichte seines Bewohners in Kurzform zu erzählen. Sie kennt jede einzelne und es erschreckt, wie sich alle gleichermaßen auf zwei bis drei Minuten zusammenschrumpfen lassen. Ihr Dienst dauert von 22 bis 7 Uhr und bei 53 Bewohnern, die meist vergessen haben, dass man die Toilette zu besuchen hat, wenn es erforderlich ist, bleibt für Melancholie kein Platz.
So stehen wir also im Zimmer von Frau T. und wechseln die Windel einer 75-jährigen Frau. Schwester Stefanie deckt sie zu, streichelt ihre Wange und flüstert: „Schlaf noch ein bissl, kleine Süße.“ Dann wendet sie sich an die Zimmergenossin Frau S. Beim Zurückschlagen der Decke kommen Fixationsbänder zum Vorschein. Demenz reduziert die Körperfunktionen stetig auf ein Minimum, die angeborenen Schutzreflexe lassen nach. Dafür hat Frau S. einen gesteigerten Bewegungsdrang. Eine gefährliche Mischung, denn ihr Körper ist mit blauen Flecken übersäht. Fast täglich sei der Notarzt hier gewesen, dem Pflegepersonal blieb keine andere Möglichkeit mehr als die Fixation. Schwester Stefanie streicht Frau S. zärtlich die schneeweißen Haare aus dem hageren Gesicht und fasst sich mit der freien Hand an die Wirbelsäule. Die ganze Nacht Patienten drehen und säubern geht auf den Körper. Als die Zimmertür ins Schloss fällt, sehe ich im letzten Licht die leeren Augen von Frau S.
„Ich dachte, ich könne gut mit Menschen umgehen.“
Die Szene, die sich im Nachbarzimmer bietet, wäre lustig, wenn sie nicht so traurig wäre: Herr H. liegt in seinem Bett, während er von einem aufgeregten Herrn L. mit erhobenem Zeigefinger angebrüllt wird. Seine Nachttischschublade ist geöffnet und tropft. „Wieder in den Nachttisch gepullert, Herr L.?“ Schwester Stefanie erzählt, er mache das ständig und da er es vergisst, war das natürlich sein Zimmernachbar Herr H. Herr L. kann ihn nicht leiden, weil er nicht versteht, was dieser fremde Mensch ständig in seiner Wohnung sucht.
Wieso fällt es mir hier so schwer?
Plötzlich steht ein anderer Herr im Zimmer und fragt nach dem Zug. Dieser müsse gleich kommen und überhaupt warte er bereits stundenlang auf seinen Sohn. Ich bin überfordert, stehe mit der vollen Windel des Herrn L. im Raum und weiß weder, was ich sagen, noch wie ich reagieren soll. Schwester Stefanie reinigt das Bett von Herrn H., der seine benutzte Windel im Bett verteilt hat. Er war einst ein angesehener Doktor der Humanmedizin. So wie er nun mit angsterfülltem Gesicht und zusammengekauert in seinem Bett liegend Schwester Stefanie fixiert, kann er sich daran weder erinnern, noch weiß er, wer diese junge Frau ist. Herr E. sieht mich noch immer erwartungsvoll an. Ich habe Berührungsängste, ekele mich. Das Gefühl steigert sich, als er sich in Richtung Tür dreht. Der Mann ist nass und riecht nach Urin.
Schwester Stefanie sieht mich nicht an. Sie ist damit beschäftigt, Herrn S. wiederholt in sein Bett zu beordern und versucht, dem verkrampften Herrn H. endlich eine neue Windel anzulegen. Mir wird bewusst, wie hilflos ich bin. Ich dachte, ich könne gut mit Menschen umgehen. Wieso fällt es mir hier so schwer? Herr E. wackelt mit kleinen Schritten vor mir her. In seinem Foto an der Zimmertür erkennt er nicht sich, sondern den erwarteten Sohn: „Mein Kleener, da biste doch endlich!“ Glücklich strahlt er über das ganze Gesicht.
Der Gang durch alle Zimmer dauert ca. eine Stunde. Schwester Stefanie würde sich gern mehr Zeit für die Bewohner nehmen, vielen muss sie das Wort abschneiden. Sie ist allein und kann nicht viel Zeit für Persönliches aufbringen. Sie muss Medikamente stellen, die Kurven der Bewohner ausfüllen und den Pflegewagen für den nächsten von vier Durchgängen vorbereiten.
Zu früh gelobt
Es ist halb vier. Wir sitzen im Aufenthaltsraum. Als ich etwas zu trinken hole, spaziert eine nackte Frau den Gang entlang. Frau T. hat sich ihrer Kleider entledigt und wandelt nun über die Flure. Wir bringen sie zurück ins Bett und beschließen, die letzte Pflegerunde zu beginnen. Frau T. hält das für eine gelungene Idee. Ihre Ausdrucksweise ist gewählt – als ehemalige Deutschlehrerin hat sie sich das bewahrt.
Gegen fünf Uhr in der Frühe beginnen die Vögel draußen – außerhalb dieser Schattenwelt – ihr tägliches Lied. Die letzte Runde macht sich fast von allein. Ich bin stolz, dass mich die Arbeit nicht mehr beinahe ohnmächtig werden lässt. Aber ich habe mich zu früh gelobt. Als das Licht das Zimmer von Frau F. erhellt, muss ich es sofort wieder verlassen. Der Würgreiz ist übermenschlich. Frau F. sitzt auf ihrem weißen Bett, ihre Arme kotverschmiert, auf dem Boden braune Flecken.
Schwester Stefanie schickt mich zu Frau T. nebenan. Ich soll sie neu lagern, während sie „das Missgeschick“ beseitigt. Ich betrete Frau T.’s Welt diese Nacht zum letzten Mal. Als sie wieder zugedeckt ist, folgt ihr Blick dem meinen zum Bild auf dem Nachttisch. Ich weiß jetzt, dass es ihren Mann zeigt, mit dem sie 40 Jahre ihres Lebens verbrachte, mit dem sie einen Sohn hatte, der Polizist war und der vor einigen Jahren im Dienst ums Leben kam. „Wissen Sie, wer das ist?“, frage ich. Sie überlegt lange, und ich meine, dass meine belangslose Frage in ihrer unergründlichen Welt verschwunden ist. Doch dann sieht sie mich an und antwortet lächelnd: „Nein, meine Gute. Wer ist denn das? Und wer bist Du?“
Kleine Gesten der Menschlichkeit
Eine Nacht an den Grenzen geht zu Ende, an den Grenzen der eigenen und einer unergründlichen Welt mitten unter uns. Eine Nacht, die mich verlegen macht aufgrund der Liebe, die Schwester Stefanie mit kleinen Gesten der Menschlichkeit verteilte, ihrer Fähigkeit, für andere da zu sein. In unserer Welt verteilen wir Liebe nicht einfach. Wir verlangen eine Gegenleistung, üblicherweise wollen wir zurückgeliebt werden. Die Bewohner auf Etage 2 aber wissen morgen, wenn Schwester Stefanies nächster Nachtdienst beginnt, nichts mehr von der Liebe heute.
Es wird gesagt: Wenn jemand in dein Leben tritt, dann, damit du etwas lernst, was du nicht weißt. Bevor man fragt, erscheint ein Mensch, der Antwort gibt und er ahnt kaum, welch einen Dienst er dir damit erweist. Das sind die Gedanken, die ich habe, als ich endlich in meinem Bett liege. Wer sie gesagt hat? Ich habe es vergessen, aber gestern Nacht traf ich einen Menschen, der mir Antwort auf eine Frage gab, die ich nicht gestellt hatte. Was bleibt von einem Leben? Albert Schweitzer meinte: „Das einzig Wichtige im Leben sind die Spuren der Liebe, die wir hinterlassen, wenn wir gehen.“
[Sandra Jörges studiert Islamwissenschaft an der FSU Jena. Auf der Suche nach dem Leben arbeitete sie u.a. als Lehrerin in Palästina, als Aushilfe an einer Tankstelle, assistierte einem Frauenarzt und absolvierte ein Praktikum in einer Demenzklinik.]
Bildquelle: Andreas Beer
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