Zum Nordpol, nach Patagonien und in den Kongo – Roger Willemsen folgt dem Versprechen einer Erfahrung bis an „Die Enden der Welt“.
von Christoph Borgans
„Meine Sehenswürdigkeit war ein Geräusch“, schreibt Roger Willemsen. Der Klang von Leinen, die in der klammen Seeluft Isafjördurs gegen die Fahnenmasten schlagen, lässt ihn nach Island aufbrechen. Es entsteht „Der blinde Fleck“, eine von 22 Reiseerzählungen, die zwischen Reportage, Essay und impressionistischer Kurzgeschichte changieren und die Willemsen in seinem aktuellen Buch „Die Enden der Welt“ zusammengeführt hat.
Hinter manchen der Reisen aus mehr als 30 Jahren stecken journalistische Aufträge, hinter einigen Frauengeschichten. Oft aber ist es schlicht „das Versprechen einer Erfahrung, anziehend wie Angstlust“. Und wenn erst einmal die Sehnsucht da ist, nach dem mystischen Arkadien, oder die „fixe Idee“ in Orvieto eine verpasste Liebe nachzuholen, dann „bekommt die Phantasie Schlagseite“, und Willemsen zieht als Eichendorff’scher Taugenichts auf und davon.
Zelluloidresistente Magie des Augenblicks
Wer sich solchermaßen von seiner Phantasie leiten lässt, findet nur schwerlich etwas, das er fotografieren und als Souvenir mit nach Hause nehmen könnte. Erlebte Stimmungen und Momente lassen sich nicht einfangen: „Die eigentliche Magie des Augenblicks aber ereignet sich im Zusammenfluss der Aussichten mit der Aussicht. Mit einem Mal erscheint in diesem Blick in die landschaftliche Ferne die Zukunft und macht den Betrachter still und fromm. Dann schießt er ein Foto. Die Aussicht ist drauf, die Zukunft nie.“ Der Tourist (Pauschal- wie Individual-) will das nicht wahrhaben und annektiert fotografisch Ort um Ort, entziffert pflichtschuldig die angebrachten Täfelchen und reist in seine eigenen Vorurteile gekleidet überall dorthin‚ ‚wo man unbedingt mal gewesen sein muss.’ Mitunter sprechen „erprobte Tourismus-Snobs“ auch schon mal „wie Gottvater selbst: ‚Dann haben wir den Südpol gemacht, dann haben wir Patagonien gemacht, vor zwei Jahren hatten wir ja schon den Kilimandscharo gemacht …’” Die oberflächliche Anschauung führt lediglich dazu, die mitgebrachten Vorurteile zu verstärken und so verbaut sich der Tourist jeden wirklichen Zugang zur Welt. „Seine Geschichten haben ihren Wert nur in Bezug auf die Person, die sie erzählt, und die das eine aus dem Fern-sehen bezieht und das andere entweder ‚unbeschreiblich’ oder ‚unglaublich’ nennt.“
Anders der Reisende, das Ideal, dem Willemsen nachstrebt. Im Gegensatz zum Touristen ist dieser bereit, sich von Menschen und Ländern überraschen und verändern zu lassen. Fernab von ‚Sehens- würdigkeiten’ versucht er sich selbst klein zu machen, „übersehen zu werden und zu erfahren, was dann geschieht.“
Willemsen hat sich dazu den ehrfürchtigen Blick eines Kindes bewahrt und liefert dem Leser eine Anschauung der Welt, die sich einer schablonenhaften Deutung ebenso verwehrt wie einer pseudo-moralischen Beurteilung. Er spricht nicht von der „bedrückenden Armut da draußen“, wie es seine flüchtige Reisebekanntschaft Belinda in Birma tut, dafür reist er wie selbstverständlich in der dritten Klasse neben einem Truthahn Richtung Mandalay und lernt währenddessen von einem Buchbinder-Ehepaar, was es heißen kann, sich im Krieg seine Träume bewahren zu müssen.
„Eine Limousine reglos wie ein weißer Büffel“
Die Fähigkeit, trotz seines umfangreichen Wissens, trotz aller Reisen und Erfahrungen noch von anderen Menschen lernen zu können, ist, was Willemsen vom Touristen unterscheidet. Wo beide aufeinander treffen, kann der Leser die Gegensätzlichkeit kaum übersehen. Beispielsweise auf der Insel Sulawesi, wenn Willemsen wandernd und trampend von Dorf zu Dorf zieht. „An einem Abend aber hatte ich mitten in einem engen, von Gräsern zu beiden Seiten zugewucherten Hohlweg eine Erscheinung: Das unwahrscheinlichste aller Fahrzeuge stand reglos wie ein weißer Büffel mitten auf dem Scheitelpunkt des Feldwegs – eine Limousine.“ Drinnen sitzt ein amerikanischer Chirug, der sich von seinem einheimischen Fahrer an Bergen, Tempeln und ‚unvergesslichen‘ Sonnenuntergängen vorbeifahren lässt, um diese der Reihe nach abzunicken. Willemsen darf ihn eine kurze Weile begleiten, trinkt eisgekühltes Wasser und sieht Indonesien durch die getönten Scheiben vorbeirauschen. Dann steuern Fahrer und Chirug einem neuen „unforgettable moment“ entgegen, während Willemsen von einem jungen Einheimischen, den er auf einem schaukelnden Busdach kennen gelernt hatte, zu einer Bestattungsfeier der Toraja eingeladen wird.
Dennoch fällt kein böses Wort über den Amerikaner. Es ist eher ein trauriges Staunen mit dem Willemsen beschreibt. Keinesfalls lässt er zu, dass Sympathie oder Antipathie die Feder führen und erzählt von allem gleichermaßen liebenswürdig, z.B. wenn er eine Zeichnung zur Toilettenbenutzung in Indonesien wiedergibt: „Hocke dich nicht mit den Füßen auf den Rand, schöpfe kein Wasser aus dem Loch und stecke deinen Kopf nicht hinein!“ Was man gelegentlich für Überheblichkeit halten könnte, ist in Wahrheit schlicht der ungeschönte Blick auf die latente Lächerlichkeit des Daseins, von der sich Willemsen selbst nicht ausnimmt. Verzweiflung, Einsamkeit und das eigene Fehlverstehen mag verschweigen, wer sich selbst im Vordergrund der Story sehen will. Roger Willemsen aber geht es um die Geschichten. Diese gerieten zu monströsen Gestalten, würde er seine eigenen Schwächen herausoperieren. So aber gelingen authentische Schilderungen einer Reise, die wir wie in einem Roman miterleben können.
Die Sache mit dem Klopapier
Authentizität ist bei Willemsen nicht oberflächlich zu verstehen, etwa in Fragen nach der Farbe eines T-Shirts, einer Entfernungsangabe oder Zeitdauer, sondern eher nach einem Gefühl, einem Zusammenhang, einer Erkenntnis. Mit einem Augenzwinkern deutet Willemsen gelegentlich auch im Buch selbst an, dass man als Schriftsteller der Wirklichkeit manchmal auf die Sprünge helfen muss: „Hinter dem Haus riecht auch die Toilette am Ende der Welt nach Endzeit. ‚Und auf der Papprolle’ berichte ich Lili, ‚lag nur noch ein einziges Blatt Klopapier’ ‚Ein bisschen dick aufgetragen für ein Ende der Welt, oder?’ ‚Stimmt. In Wirklichkeit lag auf der Papprolle kein einziges
Blatt. ’“
Auch die Sprache des Autors, in der sich seine Faszination für orientalisches Erzählen Bahn bricht, nähert sich dem Wesentlichen einer Situation spielerisch: „Es war die grandiose Tristesse einer Ansiedlung, die nicht behaust sein will, sondern zwischen den Versuchen, zu unterhalten, zu verwalten und zu ernähren, keine Sprache gefunden hat.“ Solche Erzählweise erinnert an den Abenteurer und Schriftsteller Ernst Friedrich Löhndorff oder an Reisereporter wie Wolfgang Bücher, übertrifft aber Ersteren in der Präzision der Empfindung und des Ausdrucks und Letzteren in der Abenteuerlichkeit des Erlebten.
Synästhesie des Welt- und Kunstsinns
Eine besondere Qualität erhalten „Die Enden der Welt“ auch durch die Bezüge zu Literatur und Bildender Kunst, die sich in den Erzählungen des studierten Kunsthistorikers und Literaturwissenschaftlers immer wieder ergeben. Jedoch kommen sie nicht als aufgesetztes bildungsbürgerliches Zitat daher, sondern als Zeugnis einer inneren Notwendigkeit, Welt und Kunst zusammen zu denken. Es scheint, als seien Willemsens Welt- und Kunstsinn synästhetisch verschmolzen: „Durch den Schlitz fiel etwas Lampenlicht. Es war indifferent gelb und strich über den Türrand wie die Luftbrücken auf Renaissancegemälden, wenn die Heiligen gen Himmel gehen.“ Ebenso wie Willemsen die Kunst in der Welt und die Welt in der Kunst sieht, ist er sich bewusst, dass man mit einem Ort immer auch seine Geschichte, seine Mythen und auch den Klang seines Namens bereist. Alles, was man über einen Ort weiß, verändert die Wahrnehmung. Das bedeutet nicht, dass man alles über einen Ort gelesen haben muss, sondern vor allem, dass nur davon zu lesen kein Ersatz sein kann für die eigene Erfahrung. Wer nach fast 550 Seiten den in Leinen gebundenen Buchdeckel zuschlägt und es genossen hat Willemsen auf seiner ‚sentimental journey’ begleitet zu haben, dessen Phantasie wird vermutlich ebenfalls Schlagseite bekommen und er weiß, dass es spätestens nun an der Zeit ist, loszuziehen, um „Die Enden der Welt“ auch mit den eigenen Sinnen zu erleben. Aber nicht als Tourist, sondern als Reisender.
Roger Willemsen:
Die Enden der Welt.
S. Fischer Verlag 2010
544 Seiten 22,95 €
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