Die Geschichte um Robinson Crusoe ist ein Jahrhundertwerk, das überwiegend auf einen Abenteuerroman reduziert wird. Dass dieser Roman eine der Zeit entsprechende Gesellschaftskritik enthält, ist nur wenigen bekannt.
von Merle
Daniel Defoe war ein Rebell seiner Zeit, ein kritischer Beobachter, der ganz genau wusste, wie er gesellschaftspolitischen Hintergrund gemeinsam mit persönlichen Erfahrungswerten in einem Abenteuerroman zu verpacken hatte. Mit viel Liebe zum Detail und dennoch präzise fantasiert er darüber, wie sich die Hauptfigur seines Romans The Life and Strange Surprizing Adventures of Robinson Crusoe, of York, Mariner fernab jeglicher Zivilisation selbst am Leben hält und es sich mit den wenigen, ihm zur Verfügung stehenden Mitteln sogar recht erträglich gestaltet. Mit diesem Roman gelang Defoe 1719 der Durchbruch.
Der junge Robinson Crusoe weiß schon seit er ein kleiner Junge ist, was er später einmal werden möchte: Kein Jurist, Kaufmann oder Apotheker möchte er sein, sondern ein Seemann. Gegen den Willen seiner Eltern erfüllt er sich nach seinem Schulabschluss seinen langersehnten Wunsch, als er zufällig die Möglichkeit erhält, auf einer Fahrt von Hull nach London Seeluft zu schnuppern. Hier wird einem als Leser*in schnell klar: Robinson Crusoe ist ein mutiger Abenteurer – heute würde man ihn vermutlich als Adrenalinjunkie bezeichnen. In den kommenden Jahren durchquert Robinson mit zahlreichen Segelschiffen und unterschiedlichen Schiffsbesatzungen verschiedene Weltmeere und bereist die unterschiedlichsten Länder.
Man könnte meinen, dass es am Ende Crusoes Drang nach Adrenalin und Abenteuer war, der ihn in sein eigenes Unglück stürzte. Nach einem Schiffbruch im Jahre 1659 und dem Verlust seiner kompletten Mannschaft landet er auf einer unbewohnten Insel vor der amerikanischen Küste. Fernab von seiner Heimat und komplett auf sich allein gestellt, verbringt er dort 28 Jahre seines Lebens. Seiner ganzen Jugend beraubt, kehrt er schließlich als erwachsener, reifer Mann in die Zivilisation zurück. Dennoch bezeichnet sich der Protagonist selbst als ungehorsam und übermutig. Ob Robinson es bereut, seine Familie verlassen zu haben, bleibt ein Rätsel, doch in so mancher Situation überkommt ihn zumindest schmerzliches Heimweh. Vor allem dann, wenn er nicht genau weiß, ob seine Nahrung für den nächsten Tag ausreichen, ob er eine Krankheit überleben oder nicht doch von den Tiefen des Meeres verschlungen oder von den seine Insel heimsuchenden Kannibalen gefressen wird. Am Ende der Geschichte ist eines allerdings sicher: Der Beruf des Seefahrers birgt viele Gefahren und erfordert Kraft, Einfallsreichtum und eine Menge Mut.
Unbestritten kann man sagen, dass trotz all der durchgestandenen Strapazen Robinson Crusoe die Erfahrung seines Lebens gemacht und daraus seine ganz eigenen Lehren gezogen hat – Lehren, die besonders in dem damaligen soziokulturellen Kontext bedeutsam waren und vor allem den einstigen wie auch den modernen Leser*innen etwas mitgeben soll(t)en.
Erste Lehre: Auch die aussichtsloseste Aussichtslosigkeit kann ein Ende haben. Oder: Wie man das Beste aus dem Schlimmsten macht.
Defoe stellt in seiner Erzählung von Robinson Crusoes Erlebnissen in der Ich-Perspektive sehr bildlich dar, wie sich der Gestrandete seine eigene Zivilisation aufbaut und so seinen monotonen Alltag meistert – ein sich ständig wiederholender Tagesablauf, um das eigene Leben zu wahren. Selbstlobend berichtet der Seefahrer über sein handwerkliches Geschick, sein erzwungenes Designtalent und seine neue Berufung als Landwirt. Aus den Überresten des aufgefahrenen Segelschiffes baut sich Robinson eine Art Vorzelt, nutzt eine in der Erde gegrabene Höhle als Rückzugsort und zieht einen Zaun hoch, der ihn vor Angreifern schützen soll. Er näht sich selbst seine Kleidung, geht auf die Jagd, pflanzt eigenes Gemüse sowie Getreide an und ernährt damit sich und seine eigene Viehzucht. Robinson Crusoe hat aus der Not eine Tugend gemacht und sich damit selbst übertroffen.
Daniel Dafoe führt den Leser*innen so eine „Anschaulichkeit und Überschaubarkeit des wirtschaftlichen Prozesses vor Augen, wie sie diesem in einer modernen arbeitsteiligen Gesellschaft nicht mehr begreifbar ist“, beschreibt Gertrud Kalb in ihrer Rezension des Romans. Durch seine täglichen Aufgaben der Subsistenzwirtschaft umgeht Crusoe die Langeweile, die wir Menschen heute ohne das digitale Dasein auf einer einsamen Insel wahrscheinlich verspüren würden. Die Einsamkeit, die zwischenzeitlich sein einziger Feind zu sein scheint, bezwingt er durch seine Freundschaft zu Tieren. Hunde, Katzen und ein sprechender Papagei begleiten ihn in der Zeit auf der Insel und ersetzen so seine menschlichen Kontakte.
Ab der Mitte des Romans lässt Daniel Defoe seinen Protagonisten zusätzlich Tagebuch führen. „Ich will den kärglichen Inhalt desselben hier mitteilen, obwohl dasselbe viele Dinge wiederholt, die schon berichtet sind“, beginnt Robinson Crusoe eines Tages seine Aufzeichnungen. Das Tagebuch ermöglicht ihm, sein Leben auf der Insel für sich und die Nachwelt festzuhalten und lässt an vielen Stellen erkennen, wie hoffnungslos der Protagonist seine eigene Situation wahrnimmt.
Mitgefühl als Leser*in empfindet man spätestens dann, als der gestrandete Seefahrer an einer Lebensmittelvergiftung erkrankt. Ohne Medizin und ohne Beistand, aber mit Todesangst steht Robinson Crusoe dennoch das hohe Fieber durch. Doch das ist nicht die einzige Gefahr, der er sich stellen muss, denn er entdeckt, dass die Insel von Zeit zu Zeit von Kannibalen für ihre Festmahle aufgesucht wird. Eines Tages begegnet Crusoe den Fremden dann tatsächlich, die kurz davor sind, einen Menschen zu töten, um ihn danach zu verzehren. Es gelingt dem Opfer jedoch, sich zu befreien und in Richtung der Behausung von Robinson Crusoe zu flüchten, der die Kannibalen stoppen und so „Freitag“ retten kann. „Freitag“ nennt Robinson seinen Zugelaufenen, da er ihn an einem Freitag getroffen und vor dem sicheren Tod bewahrt hat. Ab diesem Punkt erahnen die Leser*innen bereits, dass es für Robinson Crusoe aufwärts gehen wird. Er hat in Freitag einen Sklaven (damals gesellschaftlich noch völlig etabliert) gefunden, mit dem er seine Arbeit als Landwirt, Jäger und Handwerker aufteilen kann – aber auch einen nach all der Zeit so dringend benötigten Freund.
Zweite Lehre: Der Imperialismus hat Leben gekostet. Oder: Das Mitmachen kann das eigene kosten.
Aus der Geschichte von Robinson Crusoe und seinem Leben als Seefahrer lässt sich ein historisches Fazit ziehen: Die Globalisierung hat bereits spätestens ab dem 17. Jahrhundert auf dem Meer stattgefunden. Das British Empire galt im 17. Jahrhundert als die Seemacht schlechthin. Es verlagerte deren europaweiten Handel hin zum interkontinentalen Überseehandel und hängte damit Holland als Seemacht im europäischen Raum ab. Um 1700 stammte ungefähr ein Drittel der weltweiten Importe aus den englischen Kolonien sowie aus Ostindien und der Warenwert englischer Exporte stieg ab 1600 jährlich um mehrere Millionen Pfund an. Insbesondere der Sklavenhandel wurde vom British Empire gefördert. Dieser Menschenhandel diente vor allem den britischen Kolonien in Nordamerika, die dort die günstigen Arbeitskräfte hauptsächlich für die Arbeit auf ihren Plantagen ausbeuteten. Auch das Segelschiff, welches Robinson Crusoe in sein Unglück führte, sollte Sklaven verschiffen. „Wir hatten keine schwere Ladung, sondern nur solche Waren, die sich zum Handel mit den Negern eigneten“, berichtet der Protagonist. Auch der in diesem Roman als Held dargestellte Seefahrer deklariert Menschen als Ware und damit ihre Minderwertigkeit – nicht zuletzt wahrzunehmen an Freitag, seinem eigenen Sklaven. Natürlich kann man sich als Leser*in nun fragen, ob die bisher genannten positiven Charakterzüge Crusoes von dieser Einstellung gegenüber dem Sklavenhandel sowie dem Imperialismus überschattet werden. Dennoch darf hier der soziokulturelle Kontext nicht außer Acht gelassen werden, denn Defoe und somit auch Crusoe lebten zu einer Zeit, in der Individuen danach strebten, ihren eigenen Wohlstand zu wahren oder gar aufzubessern und Nationen darum kämpften, den Welthandel an sich zu reißen. Robinson selbst stellt, nachdem er auf der einsamen Insel gestrandet ist, fest: „O elender Plunder [gemeint ist Geld], wozu taugst du mir nun? Du bist jetzt nicht einmal der Mühe wert, dich am Wege aufzulesen“.
Und daraus ergibt sich die dritte und letzte Lehre, welche die Gesamtaussage des Romans umrundet:
Geld und damit der Kapitalismus verlieren ohne Zivilisation an Wert und können auch nicht das Überleben bezahlen.
Daniel Defoe kreierte eine fiktive Figur, die von der Seefahrt, dem universalen Reisen und auch von dem Seemachtstreben fasziniert gewesen ist, was sie jedoch fast zu Fall brachte. Er setzt damit die Geschichte in den Kontext des Imperialismus und dessen Gefahren – und das nicht ohne Grund. Daniel Defoe selbst war nämlich, gegen den Willen seines Vaters, kein Geistlicher, sondern ein Kaufmann geworden. Als solcher führte er einen Import-Export-Handel und besaß einige Segelschiffe, die Waren wie Tabak, Wein und Holz nach Amerika verschifften. Nach Schiffbruch mehrerer Schiffsladungen ging sein Geschäft 1692 jedoch bankrott. Daniel Defoe erlitt also selbst zumindest sinnbildlich ebenfalls Schiffbruch. Er entschied daraufhin, Journalist und Schriftsteller zu werden. Als Autor ist er dafür bekannt, in seinen Werken auf religiöse Konflikte, gesellschaftliche Missstände wie Armut und Arbeitslosigkeit sowie gesellschaftliche Schichtunterschiede aufmerksam zu machen und Moralvorstellungen zu verbreiten. In vielen seiner Werke nehmen biographische Elemente einigen Platz ein, da sein eigenes Leben von den Konsequenzen des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbruchs gekennzeichnet ist.
Nach dem Erscheinen des Romans wurden immer wieder Stimmen laut, die Defoe Plagiat vorwarfen. Denn 1713 publizierte die Zeitschrift The Englishman reale Berichte über den Matrosen Alexander Selkirk, der vier Jahre auf der Insel Más a Tierra fernab jeglicher Zivilisation festsaß. Nicht unwahrscheinlich war, dass auch Daniel Defoe davon Wind bekam und die realen Ereignisse als Grundlage für seinen Abenteuerroman nutzte. Dennoch überwiegen die fiktiven Elemente. Maximilian E. Novak fasst die Auswirkungen von Defoes Roman passend zusammen: „Robinson Crusoe had given its author the status of saint, whether he deserved it or not“. Nicht umsonst ist bei Romanen mit Schiffbruch erleidenden Protagonist*innen und dem Gefangensein an einem verlassenen Ort von der „Robinsonade“ die Rede – ein Genre, das Robinson Crusoe und auch Daniel Defoe unsterblich macht.