Von der Keule zum Genozid

Israel „hat die Rückendeckung der Zivilgesellschaften verloren. Es ist darum wahrscheinlich der einzige Staat auf der Welt, der Lobbyarbeit um seiner Existenz willen betreibt – nicht für seine Politik, nicht im Interesse seines wirtschaftlichen Fortkommens, sondern für seine moralische Legitimierung an sich. Und es ist dabei, diesen Kampf zu verlieren.“

von Nils Richber


Diese Anfang Dezember getätigte Aussage des bekannten israelischen Historikers Ilan Pappe bezeugt nicht nur unmissverständlich, dass, wenn es um Israel geht, besondere Maßstäbe gelten. Sie bezeugt ebenfalls, dass mit diesem Ausnahmestatus Israels in der Weltöffentlichkeit durchaus die Anfechtung seines „Existenzrechts“ verbunden ist – müsste doch sonst für ein Recht, das nicht bestritten wird, auch nicht lobbyiert werden. Diese Anfechtung artikuliert sich kaum weniger deutlich unter dem negativen Vorzeichen gegenteiliger Beteuerungen und der Phalanx von Exklusivausdrücken, die sich in die Rede über Israel eingeschliffen haben, als in der ganz unverhüllten Ausnahmebehandlung Israels durch die Vereinten Nationen. Man müsste es mit der bewussten Verharmlosung des Weltgeschehens wohl recht weit treiben, wollte man behaupten, es seien seit 2015 bloß darum mehr als doppelt so viele Resolutionen gegen Israel als gegen alle anderen Länder zusammen verabschiedet worden, weil die Menschenfeindlichkeit der israelischen Politik eben diejenige aller anderen Staaten in den Schatten stelle. Und wie anders sollte sich erklären, dass die Palästinenser/innen, insofern sie als Opfer israelischer Misshandlungen in Erscheinung treten, mit einem für sie exklusiv zuständigen Hilfswerk, sowie einem rechtlichen Sonderstatus ausgezeichnet werden, der etwa die Vererbbarkeit ihres Flüchtlingsstatus einschließt, als dadurch, dass man sie als Opfer eines besonderen, mit anderen unvergleichlichen Vertreibungsverbrechens wahrnimmt? – Dass nahezu ausschließlich Israel als Urheber des Elends der Palästinenser/innen angeklagt wird, rechtfertigt Zweifel daran, dass wirklich die Solidarität mit diesen Menschen in ihrem Leiden als letztlich bestimmendes Motiv dieser Umtriebe angenommen werden darf. Solidarität müsste sich wohl schließlich auch daran messen lassen, dass nicht bloß beiläufig oder relativierend von der menschenverachtenden Martyriums- und Opferideologie jener Islamisten gesprochen wird, deren Führer unverhohlen und konsequent „das Blut der Frauen, Kinder und Alten“ von Gaza als den Stoff einer spirituellen Verjüngungskur begreifen, oder von der Diskriminierung und Isolierung staatenloser Palästinenser/innen in den benachbarten arabischen Ländern, oder von ihrer politischen Geiselnahme als Druckmittel gegen Israel – um bloß von der unmittelbaren Gegenwart zu sprechen.

Wenn es Israel […] bis heute anders als anderen Staaten nicht gelang, seine Gründungsgewalt leidlich zu verdrängen, […] dann darum, weil diese Gewalt die bürgerliche Welt daran erinnert, dass ihre eigene, allgemeine Gewalt durch nichts mehr zu rechtfertigen ist […].

Darf man dagegen heute unbekümmert einen Zufall darin annehmen, dass es ausgerechnet der Staat Israel ist, der nun moralischen Denunziationseifer auf sich zieht wie kein Zweiter? Ausgerechnet der Staat, dessen bloße Möglichkeit zur Zeit um den ersten internationalen Zionistenkongress in Europa schon mit einem Fanal des Verfolgungswahns beantwortet wurde, wie es die mehr als hundert Jahre später nun vor allem im arabischen Raum verbreiteten Protokolle der Weisen von Zion darstellen? Ausgerechnet der Staat, der ohne die von Deutschland ausgegangene antisemitische Vernichtungsmission und die Gleichgültigkeit der Welt gegenüber ihren Opfern nicht gegründet worden wäre?
Wer ungerührt Beweise dafür verlangt, dass die „Kritik am Staat Israel“ und dessen besonderes Privileg, von aller Welt als Staat kritisiert und zur Disposition gestellt zu werden, von der unbewussten Kontinuität antisemitischer Bildungen und Reflexe getragen wird, muss nicht nur die angedeuteten diskursiven Schieflagen umgehen, sondern die Kontinuität der Geschichte selbst herunterspielen, verdrängen oder leugnen. Denn „der unaussprechliche Gräuel“ des Vernichtungsvorhabens der Schoah ist menschheitsgeschichtliche Erfahrung geworden, die sich nicht provinzialisieren lässt und die „auf dem modernen Menschen [lastet] wie ein Gewissensbiss“ (Vladimir Jankélévitch). Die Frage nach der Kontinuität des Antisemitismus in der „Israelkritik“ steht im Raum und sie muss dorthin nicht erst durch die berüchtigte „zionistische Propaganda“ oder die vermeintlichen Priester des „Schuldkultes“ gestellt werden, die dem eigenen Bedürfnis nach historischer Sinnstiftung einen Strich durch die Rechnung machen. Sie stellt sich objektiv durch die Erfahrung einer historischen Katastrophe, der gegenüber sich Naivität kategorisch verbietet – also etwa so zu tun, als könnte sich der Antisemitismus, der zur Schoah geführt hat, seither einfach in eine dunkle Ecke verflüchtigt haben und als wären die Wege nicht längst gebahnt, auf denen ihm in Israel ein neues Objekt zu finden beschieden war.
Israelkritisch eingestellte Zeitgenoss/innen pflegen darauf mit der apodiktischen Formel zu antworten, „zwischen Antisemitismus und einer legitimen Kritik am Staat Israel“ beziehungsweise, wenn man der Verdrängung dessen, was sich in dieser Formulierung Bahn bricht, nachzuhelfen versucht, „an der israelischen Politik“, müsse „unterschieden werden“. – Das Problem mit dieser Antwort liegt aber nicht nur in der nachjustierten Selbstverharmlosung, die hinter das eingangs zitierte, ganz anders lautende Eingeständnis des israelkritischen Historiker-Pioniers Pappe zurückfällt. Vor allem resultiert sie nicht, wie ihre stereotypische Wiederholung anzeigt, aus einem reflexiven Durcharbeiten der Frage. Sie hat vielmehr den Charakter der Verkündung eines Grundsatzes, d.h. einer petitio principii. Sie entspricht als Antwort ihrem Inhalt nach schlicht einer Weigerung, sich die Frage zu eigen zu machen – der dann Gründe nachgetragen werden können.

Diese Aneignungsverweigerung bereitet aber die Grundlage für eine projektive Auslagerung: Das, wovon man selbst nichts wissen will, das sich aber aufdrängt, muss sich also einem manipulativen Eingriff von außen verdanken: Es sind bestimmte Gruppen, die mit einem wiederum Israel unter den Staaten allein vorbehaltenen Sprachgebrauch als „Israel-Lobby“ bezeichnet werden, welche den Antisemitismus immer schon „gegenüber denen, die es wagen, sich kritisch zu äußern“, „instrumentalisiert“ haben. Wo immer der Antisemitismus sich als etwas zu erweisen droht, was die mutigen Israelkritiker/innen betreffen und in Anfechtung stürzen könnte, hat man es schon nicht mehr mit Antisemitismus, sondern mit dessen Instrumentalisierung zu tun. Die verhängnisvolle, die Beziehung zur politischen Wirklichkeit verformende Kontinuität des antisemitischen Ressentiments wird selbst nach antisemitischem, verschwörungstheoretischem Muster erklärt: Das schlechte Gewissen – das schon Friedrich Nietzsche dem Christentum, das Christentum selbst aber „Israel“ mit seiner heimtückisch-ausdauernden und „sublimen Rachsucht“ in Rechnung stellte – wird nicht als Spur von etwas anerkannt, das man selbst verdrängt hat, sondern als schlecht gemachtes Gewissen. Es kehrt von außen wieder als Erpressungsversuch eines pro-israelischen Komplotts, gegen das man sich beherzt zur Wehr setzen müsse und dessen Fußsoldaten und Kollaborateuren, die einem mit der bereits von Martin Walser gefürchteten „Moralkeule“ zu Leibe rücken, man nur frei von Gewissensangst die Stirn zu bieten habe. Das Leiden der Palästinenser/innen, sofern es jeweils vermeintlich oder tatsächlich israelisch verursacht ist, verleiht diesem selbstbescheinigten Wagnis der Kritik seine moralische Rechtfertigung. Es wird darum geradezu unmittelbar, beinahe persönlich genommen, in drastischsten, sich gegenseitig überbietenden Bildern und Begriffen geschildert und bis in einen morbiden Schauerkitsch hinein – passend zur islamistischen Ideologie – als kollektives Martyrium dramatisiert, welches die oft durch das palästinensische Kind symbolisierte Unschuld im Angesicht des unaussprechlich Bösen erleide. Von der ambivalenteren Realität und dem realen Zusammenhang des Leidens bleibt im Schatten dieser apokalyptisch aufgeladenen, manichäischen Szene wenig übrig. Von der andererseits waltenden strategischen Nüchternheit, mit welcher die Hamas-geführte Mordorgie vom 7. Oktober 2023 zum Akt des „Widerstands“ und zur militärischen „Offensive“ euphemisiert, wenn nicht gleich mit einem fixen „Cui bono?“ Israel selbst in die Schuhe geschoben wird, bleibt ebenfalls kaum eine Spur, wenn es postwendend die israelischen Militärschläge gegen Gaza als nicht weniger denn einen blutdurstigen Genozid und Vernichtungskrieg zu denunzieren gilt, der genau jetzt geschehe, gleichzeitig aber sowieso von Beginn an, also seit der „Nakba“ genannten Vertreibung palästinensischer Araber/innen im Zuge der israelischen Staatsgründung, im Gange sei. – Es scheint, dass wer im moralischen Wettrüsten nicht unterliegen will, wohl bei der Keule nicht stehenbleiben darf, sondern rhetorisch zu schwereren Geschützen greifen muss.

Dass es sich bei dieser Überbietungslogik, die an die Unmittelbarkeit des Mitgefühls appelliert, um eine Sabotage am Denken – auch dem eigenen – handelt, beschrieb Theodor W. Adorno um 1968 so:

„Wer sich einbildet, er sei, als Produkt dieser Gesellschaft, von der bürgerlichen Kälte frei, hegt Illusionen wie über die Welt, so über sich selbst; ohne jene Kälte könnte keiner mehr leben. Die Fähigkeit zur Identifikation mit fremdem Leiden ist, ausnahmslos in allen, gering. Daß man es einfach nicht mehr habe mitansehen können, und daß keiner guten Willens es länger mitansehen dürfe, rationalisiert den Gewissenszwang.“

Wo sich der kritische Wagemut an den Ausbrüchen von Betroffenheit und moralischer Verurteilungswut als Maske von Schuldabwehr erweist, gälte es, sich darauf zu besinnen, was „Kritik“ von Immanuel Kants Kritik der reinen Vernunft an tatsächlich bedeutet: eine Kritik, die zugleich Selbstkritik wäre – die sich nicht kurz entschlossen auf ihren Inhalt stürzt, sondern mit Karl Marx zu fragen beginnt, „warum dieser Inhalt jene Form annimmt“. Erst dort und mit einer Kritik der Kritik an Israel könnte eine kritische Analyse der historischen, gesellschaftlichen und politischen Rolle Israels in der Gegenwart anheben – und sie ist nicht unter einer Kritik derjenigen Gesellschaft denkbar, die des besonderen Sündenbocks Israel bedarf, um der Allgemeinheit ihrer bürgerlichen Kälte nicht inne werden zu müssen. Nicht bloß die Tendenz zum Antisemitismus wäre zu benennen, die den bürgerlich-kapitalistischen Vergesellschaftungsformen als solchen innewohnt, da sie das Bedürfnis nach den Bildern des gierigen Finanzspekulanten, des wurzellosen Bodenräubers oder des ränkeschmiedenden Volksverräters immer neu hervorbringt, um sich das Versagen von Markt, Staat und Demokratie erklären zu können. Zudem wäre Israel als die staatgewordene Erinnerung an die historisch endgültige Kompromittierung des Zukunftsversprechens dieser bürgerlichen Gesellschaft ernstzunehmen, die weder zur Verbreitung von „Demokratie und Menschenrechten“ noch in die letzten zivilisationsdurstigen Winkel der alten Welt geführt hat, noch zur Aufhebung ihrer Selbstbeschränkung durch das Privateigentum in den Sozialismus als Ziel der Geschichte – sondern in den Massenmord als irrationale Schicksalsmission. Wenn es Israel, wie Slavoj Žižek einmal bemerkte, bis heute anders als anderen Staaten nicht gelang, seine Gründungsgewalt leidlich zu verdrängen, wofür auch die Gewalt gegen Palästinenser/innen symptomatisch bleibt, dann darum, weil diese Gewalt die bürgerliche Welt daran erinnert, dass ihre eigene, allgemeine Gewalt durch nichts mehr zu rechtfertigen ist – und weil diese Welt nicht zuzulassen bereit ist, dass ausgerechnet Israel vergisst, woran sie selbst nicht denken will.


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