Der Philologe Victor Klemperer nannte sie „Lingua Tertii Imperii“, die „Sprache des Dritten Reichs“. Wo nutzen wir heute noch Nazi-Vokabular? Der Journalist Matthias Heine widmet sich in seinem Buch der historischen Einordnung und spricht im Interview über sprachliches Taktgefühl und Geschichtsbewusstsein.
von Frank
Wo reden wir heute noch wie Nationalsozialisten? Zum Beispiel, wenn wir buchstabieren! „Z wie Zeppelin“ oder „S wie Siegfried“ ersetzten unter Hitler im offiziellen Buchstabier-Alphabet die biblischen, als jüdisch aufgefassten Namen wie Zacharias und Samuel. Solch sprachlichen Erbschaften aus zwölf Jahren NS-Zeit widmet sich der Journalist Matthias Heine in seinem Buch Verbrannte Wörter. Er zeigt jedoch auch, dass manche Begriffe und Wendungen zu Unrecht unter dem Verdacht stehen, eine „braune“ Herkunft zu haben.
Nach Art eines Wörterbuchs listet der Band alphabetisch geordnete Einträge, die mitunter humorvoll, aber jederzeit dem Ernst des Themas angemessen ausfallen. Heine versteht es, pointiert und zugleich eindringlich zu schreiben – etwa zum Begriff der menschlichen „Rasse“ (der nicht erst unter den Nationalsozialisten aufkam): „Das Wort ‚Rasse‘ sollte man nicht meiden, weil es NS-Deutsch ist, sondern weil es Quatsch ist.“ So findet sich in ähnlicher Weise unter jedem der 87 Begriffseinträge eine begründete Empfehlung, ob man das Wort nutzen sollte – oder eben nicht. Ein gedankenloser Umgang mit Sprache oder mangelnde Geschichtskenntnis sei meist die Ursache, wenn Personen „belastete“ Wörter verwenden.
Heines Buch bietet einige Aha-Effekte, beispielsweise beim Wort „betreuen“, das vor der NS-Zeit kaum verbreitet war, aber heute ganz selbstverständlich zu unserer Alltagssprache gehört. Oder beim Begriff „Hiwi“, der seit den 70er Jahren für studentische Hilfskräfte an der Uni genutzt wird: Die Abkürzung stand im Sprachgebrauch der Wehrmacht für „Hilfswillige“, also Kollaborateuren aus der Bevölkerung der eroberten Länder, die den NS-Besatzern nichtmilitärische Arbeitsdienste leisteten. Seine Nachforschungen zeigen: Wohlmöglich war der Ausdruck „Hiwi“ ursprünglich „ein Altherrenwitz unter dem akademischen Personal, das sich noch an den Zweiten Weltkrieg erinnerte und seine studentischen Hilfskräfte mit den Handlangern gleichsetzte, von denen es sich damals im Feindesland bedienen ließ.“
Ähnlich unerwartet trifft man als Leser auf das Wort „Eintopf“, das vor 1933 weitgehend unbekannt war, wie Heine zeigt. Verbreitung erlebte es im Nationalsozialismus durch die Eintopfsonntage. Es sind solche Begriffe, bei denen Heine deutlich macht: Die Herkunft bedeute nicht zwangsläufig, dass sie heute nicht mehr benutzt werden dürfen. Er möchte aber für die Verwendung der historisch gefärbten Sprache sensibilisieren.
Wie wichtig solches Sprachbewusstsein ist, zeigt ein Nazibegriff, mit dem inzwischen ganz unbedarft auch linke Aktivisten hantieren: „Kulturschaffende“ beteiligen sich heutzutage gerne mal an Aufrufen gegen Rechts; dabei bezeichnete das Wort ursprünglich ab Herbst 1933 alle in der nationalsozialistischen Reichskulturkammer organisierten Männer und Frauen, die im weitesten Sinne künstlerisch tätig waren.
Häufiger tauchen in Heines Buch übrigens Äußerungen von AfD-Mitgliedern als aktuelle Beispiele für die Verwendung von NS-Begriffen auf – man denke nur an Ausdrücke wie „Systempresse“ und „Volksverräter“. Hier fällt Heines Urteil ebenso pointiert wie eindeutig aus: Wer „Volksverräter“ sage, könne „auch gleich mit erhobenem rechten Arm herummarschieren. Er muss damit rechnen, für einen Nazi gehalten zu werden.“
Matthias Heine erklärt, das Buch unter anderem für Lehrer geschrieben zu haben (siehe Interview). Sein Verbrannte Wörter ist aber vor allem für Journalisten und Politiker – und andere, die täglich mit Sprache arbeiten – ein ungemein nützliches (Hand-)Buch, das unterhaltsam, aber ernsthaft für die Geschichte sensibilisiert.
„Es geht um Pietät und historisches Bewusstsein“ – Im Gespräch mit Matthias Heine
unique: Gab es einen konkreten Anlass für das Buch – zum Beispiel den Ärger über eine Äußerung eines Politikers oder eine geschichtsvergessene Formulierung eines Journalisten?
Heine: Ein Anlass von vielen war, dass eine leitende Redakteurin des „Spiegels“ 2017 schrieb, mit der „Sonderbehandlung“ Israels durch die deutsche Außenpolitik müsse nun mal Schluss sein. Dafür ist ihr ein ziemlicher Shitstorm um die Ohren geflogen, weil „Sonderbehandlung“ ein massenhaft belegter Euphemismus für Mord im Vernichtungssystem der Nazis war. Ich kann zwar trotzdem weiter zu meinen Töchtern sagen: „Nein, Du kriegst keine Sonderbehandlung“, wenn die eine Extrawurst wollen. Aber im Zusammenhang mit dem jüdischen Staat zeugt so ein Wortgebrauch von Geschichtsvergessenheit. Mein Buch soll helfen, solche Unfälle zu vermeiden. Ich kann zwar nicht von einem Amazon-Boten oder einer Bäckereiverkäuferin erwarten, dass sie Nazibegriffe als solche erkennen, aber ein Politiker oder jemand der professionell mit Sprache umgeht, sollte Bescheid wissen.
Sehen Sie generell eine klare Tendenz zu mehr Gebrauch der belasteten Begriffe?
Es ist ganz klar so, dass Rechtspopulisten einige NS-Begriffe bewusst und aktiv benutzen. „Systempresse“ und „Volkverräter“ sind ja Schimpfwörter, die von diesen Leuten gern genutzt werden. „Volksverräter“ ist 1941 erstmals in den Duden aufgenommen worden und „Systempresse“ war eine Kampfvokabel vor der Machtübernahme der Nazis. Als es dann nach 1933 wirklich eine Systempresse gab, durfte sie keiner so nennen. Neulich hat der Vorsitzende der Jungen Union von „Gleichschaltung“ in der Partei unter Merkel gesprochen. Der wusste genau, was er tat. „Gleichschaltung“ und „gleichschalten“ sind in der rechten Szene ja gerade wieder häufig gebrauchte Begriffe. Allerdings gab es eine Bedeutungsverschiebung: Man sieht sich als Opfer von „Gleichschaltung“ während das für die Nazis ja eine erstrebenswerte Sache war. Heute kritisieren Rechtspopulisten „gleichgeschaltete“ Medien, die nicht genug über Verbrechen durch Flüchtlinge berichten.Sind Sie bei den Recherchen auf Erkenntnisse dazu gestoßen, welche Gruppen oder Milieus die belastete Sprache besonders gebrauchen, sei es bewusst oder unbewusst?
Ich weiß nur, dass es NS-Begriffe gibt, die in der DDR weiterbenutzt wurden. Dazu gehört „Kulturschaffende“, das im Zusammenhang mit der Gründung der Reichskulturkammer aufkam, aber auch „anglo-amerikanisch“. Möglicherweise gibt es heute bei manchen Begriffen auch eine geringere Sensibilität unter jüngeren Menschen. Denken Sie nur an den inflationären umgangssprachlichen Gebrauch des Wortes „asozial“ – das war eine Kategorie im KZ; wer so benannt wurde, wurde verhaftet und oft auch sterilisiert. Und als ich vor 30 Jahren bei der Braunschweiger Zeitung mein Volontariat machte, durften wir nicht „betreuen“ schreiben, weil das in dem sprachkritischen Werk Aus dem Wörterbuch des Unmenschen als Vokabel der NS-Bürokratie beschrieben wird und es ältere Redakteure gab, die dieses Buch gelesen hatten. Die Karriere von „betreuen“ nach 1945 erklärt sich damit, dass dieses Verb – ganz unabhängig vom ideologischen Gehalt – die Bedürfnisse einer Bürokratie befriedigt: Man braucht ein Wort, für Tätigkeiten, von denen keiner weiß, worin sie überhaupt bestehen. Insofern gibt es eine Schnittmenge zischen NS-Sprache und der Sprache der verwalteten Welt.Einige der Einträge dürften für einen gehörigen Aha-Effekt sorgen – unter anderem „Kulturschaffende“. Welcher problematische Ausdruck begegnet Ihnen in Texten von Journalistenkollegen besonders häufig? Und welches Wort sehen Sie am häufigsten zu Unrecht unter „NS-Verdacht“?
„Kulturschaffende“ hört man heute ständig. Es gab ja diesen Aufruf gegen Seehofer voriges Jahr – da stand es in den Agenturmeldungen. Es ist schon eine Ironie, dass gegen Rechts unter einem Etikett protestiert wird, dass die Nazis geschaffen haben. Andererseits schließt das Wort eine Benennungslücke, weil es eben auch Leute einschließt, die keine Künstler sind – das erklärt sein Fortleben. Aber wir haben sicher kein Faschismusproblem bekommen, weil wir so oft „Kulturschaffende“ gesagt haben. „Asozial“ wird ebenfalls von Journalistenkollegen ganz unbefangen benutzt, wenn man Banken und Konzerne kritisiert – gerne auch im Wortspiel „asoziales Netzwerk“. Zu Unrecht unter NS-Verdacht steht dagegen die Redensart „bis zur Vergasung“, die stammt aus der Chemie, wo man etwas erhitzt, bis es in gasförmigen Zustand übergeht – so wie kochendes Wasser anfängt zu dampfen. Das hat sich dann aus der Schülersprache zum Ausdruck von Überdruss entwickelt und ist schon in den 1930er-Jahren nachweisbar – lange, bevor die erste Gaskammer gebaut wurde. Benutzen würde ich es trotzdem nicht, weil ich keine Lust hätte, all das jedes Mal zu erklären und weil es ein sehr umgangssprachlicher Ausdruck ist.Sie beziehen sich immer wieder auf „braune“ DUDEN-Ausgaben der 30er und 40er Jahre. Ihr Buch ist ja interessanterweise auch im DUDEN-Verlag erschienen. Gab es dort irgendeine Form von Zusammenarbeit mit Ihnen, im Sinne einer verlagsinternen „Aufarbeitung“?
Als ich auf der Buchmesse in Leipzig gesprochen habe, war mein Duden-Lektor ganz besonders daran interessiert, über dieses Thema auch zu sprechen. Man steht dazu und kann ja auch gelassen sein, weil es keine Kontinuitäten gibt. Besondere Aufarbeitung ist da aber nicht mehr nötig gewesen, denn die Geschichte, wie der Duden eilfertig den Naziwortschatz aufnahm, ist schon in den 80er-Jahren von der Germanistik erzählt worden. Man könnte das bei Duden eigentlich zum Anlass nehmen, auch in der Gegenwart mehr Zurückhaltung bei politisch-gesellschaftlichem Sonderwortschatz zu üben – den man möglicherweise wieder streichen muss, wenn die Zeiten und Themen sich ändern. Es ist ja schon häufig darauf hingewiesen worden, dass es im Rechtschreibduden eine gewisse Neigung zur Genderstreberei gibt. Da stehen viele weibliche Formen drin, die man in der Realität noch nie benötigt hat. Mein Lieblingsbeispiel dafür ist die „Altkanzlerin“ – da eilt man beflissen der Zeit voraus.Wie kann nach Ihrer Auffassung eine geeignete Sensibilisierung für die problematische Geschichte bestimmter Begriffe aussehen? Wo und wann muss diese ansetzen?
Mein Buch ist ganz klar auch für Lehrer geschrieben. Ich könnte mir vorstellen, dass man es im Deutsch- oder Geschichtsunterricht nutzt. Sicher nicht mehrere Schuljahre lang, aber im Rahmen von Einheiten über politischen Wortschatz allgemein. Aber vor allem müssen Sprachprofis sich informieren. Es geht um Taktgefühl, Pietät, historisches Bewusstsein und angemessenem Wortgebrauch – also das, was guten Stil ausmacht. Es ist manchmal schon lustig, dass Menschen, die jedes falsche Komma oder „wegen“ mit Dativ für den Untergang des Abendlandes halten, sofort „Zensur“ und „Sprachpolizei“ schreien, wenn man sie über Wörter belehrt, die in bestimmten Situationen einfach fehl am Platze sind. Dabei könnte mein Buch sogar für gemäßigte AfDler hilfreich sein, die nicht wegen irgendwelcher sprachlichen Unfälle unter Naziverdacht geraten wollen.Die deutsche Sprache ist heute wie vielleicht nie zuvor im Fluss: weg vom gedruckten Duden zu Online-Wörterbüchern, aber auch durch Jugendsprache und internationale Einflüsse. Werden dadurch alte, teils NS-belastete Begriffe nicht automatisch aussterben?
Ich sehe das nicht. Genauso könnte man ja hoffen, dass der Faschismus ausstirbt, weil die Menschen irgendwann selbst dafür zu blöd sind. Unwahrscheinlich. Andererseits: Wenn wir irgendwann alle nur noch eine Muttersprache sprechen, die vong Inglischness her ganz crazy ungerman ist, wird man vielleicht auch alle Wörter vergessen haben, die in meinem Buch stehen. Aber momentan sieht es noch so aus, dass gerade sprachlich wenig reflektierte oder ungebildete Sprechergruppen solche Begriffe eher aus Ahnungslosigkeit benutzen.Vielen Dank, Herr Heine!
Matthias Heine:
Verbrannte Wörter: Wo wir noch reden wie die Nazis – und wo nicht
Duden-Verlag 2019
224 Seiten
18,00 €
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