Eine Graphic Novel, die vom Nicht-Sehen handelt: Unsichtbare Hände zeichnet die Reise eines Marokkaners in die europäische ‚Illegalität‘ nach. Eine Comic-Besprechung im Dialog mit dessen Autor, Ville Tietäväinen.
von Carolin
In medias res. Unsichtbare Hände beginnt in der Mitte: im Grenzbereich, der zwei Kontinente trennt und verbindet – wie auch die zwei Erzählstränge der Graphic Novel. Die nächtliche Überfahrt der Flüchtenden Rashid und Nadim von Marokko nach Spanien auf der Straße von Gibraltar mündet in eine zu erwartende Tragödie: Von der Küstenwache entdeckt, brechen die Schlepper die Aktion ab – indem sie die Bootsinsassen zum Sprung in das eisige Wasser zwingen. Die Exposition endet in der stillen Tiefe des Ozeans; nicht alle Insassen überleben das Wagnis. Wahre Geschichten mit ähnlichem Ablauf nehmen in den Medien spätestens seit dem großen Unglück vor Lampedusa im Oktober 2013 vermehrt Platz ein. Ville Tietäväinens dritte Graphic Novel aber verschiebt den Fokus von hier aus und wirft den Blick zum einen auf die Gründe und Hoffnungen der Migration, zum anderen auf das, was danach geschieht – nicht länger vor der Grenze zu Europa, sondern mittendrin. Der englische Titel Invisible Hands verweist neben der Assoziation auf Hilfe oder Halt suchende Hände auf die Arbeiter, die man im Englischen ebenfalls als ‚hands‘ bezeichnet. Als ‚Illegale‘ werden viele Migranten zu Freiwild auf dem europäischen Arbeitsmarkt.
So verdingt sich Tietäväinens Protagonist Rashid ohne Genehmigung als Verkäufer auf den Straßen Barcelonas und ohne Arbeitsschutz als Giftsprüher im Meer der Gewächshäuser Almerías. Dessen triste Plastik-Landschaften, die ganz Europa mit Gemüse versorgen, werden wie das eigentliche Meer oft vogelperspektivisch dargestellt, so weit entfernt, dass die Bilder sich ins Unidentifzierbare geometrischer und organischer Muster verlaufen. Die Orientierungslosigkeit, die Unsichtbare Hände auf vielfältige Weise thematisiert, betrifft die gesamte globale Informationsgesellschaft ebenso wie die Figuren der Geschichte. Im Moment der Überfahrt beten sie darum, in das richtige Land zu fahren, eines, in dem sie eine Chance haben; „Leite uns den rechten Pfad, den Pfad derer, denen du gnädig bist, nicht derer, denen du zürnst, und nicht der Irrenden.“ Ihre größte Angst ist die Verirrung.
Im Sommer 2014 erschien die Graphic Novel des finnischen Zeichners in deutscher Fassung, in einem imposanten, gebundenen Großformat – ein Buch, das sich schon als Objekt von der Alltagslektüre abzusetzen sucht. Gleich zu Beginn findet sich ein Konglomerat von Begriffen, die im Zusammenhang mit Flucht in der medialen Berichterstattung geläufig sind, angepasst an den deutschen Sprachraum: Flut, Welle, stürmen, eindämmen – die Metaphern speisen sich aus dem Stoffbereich des Katastrophalen, Bedrohlichen. An den Anfang einer fiktionalen, visuell erzählten Geschichte gestellt, lässt sich die Ansammlung als Kritik an den Medien werten, die, statt Zusammenhänge verständlich zu machen, Fakten hinter aufgeladener Sprache verstecken. Wie verhält sich ein fiktionales Werk im Vergleich dazu? Ist es womöglich ‚wahrer‘?
Ville Tietäväinen: While media covers the subject from a distance, I tried to get as close as possible to the individuals dealing with it. Media speaks of these human beings as a monolithic mass and juxtaposes human beings to natural phenomena and natural catastrophes. I‘m sure that this kind of fictitious work enables the readers to relate with these real people better.
Die Fiktion lässt diese „echten Menschen“ nicht etwa außer Acht. Fünf Jahre lang arbeitete der finnische Illustrator an der Graphic Novel. Mehrere Monate davon recherchierte er gemeinsam mit dem Sozialanthropologen Marko Juntunen vor Ort in Marokko und in Spanien, traf unregistrierte Immigranten auf den Plantagen Almeriás. Die Recherchen waren beschwerlich, zuweilen auch gefährlich:
Some greenhouses using undocumented workforce were guarded and impossible for us to get into, so sometimes we gave instant cameras to the workers and got them back in the night. We also got help getting in contact with the immigrants from associations like SOC Almería, a migrants‘ NGO, and Cruz Roja, Red Cross Almería. I remember one very intimidating occasion, when an SUV car with blackened windows started following me from the immigrants´shanties, practically escorting me out of the area.
Mit Juntunens Arabisch-Kenntnissen gewannen sie das Vertrauen der Immigranten, die Europäern sonst skeptisch gegenüber stehen, auch da sie Angst haben, verraten zu werden. Die Geschichte Rashids in Unsichtbare Hände ist eine Art Collage aus jenen Geschichten, die die Betroffenen mit den beiden Finnen teilten.
Rashid steht unter dem mehrfachen Druck seiner Familie in Marokko. Seine kleine Tochter wird vor Hunger zusehends schwächer, seine Mutter ist krank, der Vater verschuldet. Als Rashid seine Anstellung als Schneider verliert, entschließt er sich zur ‚Harraga‘, der illegalen Einreise in die EU. Sie führt ihn in eine Parallelwelt, in der er nicht nur als ‚Illegaler‘ unsichtbar wird, sondern schließlich nicht mehr zu sich selbst durchdringt und langsam den Verstand verliert. Als psychologisches Panorama der Flucht und ihrer Konsequenzen verfolgt die Graphic Novel, wie sich die Grenzen der Wahrnehmung zwischen (Alb-)Traum und Realität verlieren, unweigerlich zustürzend auf einen Abgrund. Auch visuell ist Unsichtbare Hände düster: In vielen der großen Panels dominiert das Schwarz der Nacht und der Meerestiefe, am Tag matschiges Dunkelbraun und der Nebel vom Gift der Gewächshäuser. Für Hoffnung gibt es wenig Platz.
Actually I tried to plant some hope into it, not just the false hope that keeps Rashid going. I just could not make up a sort of objective hope that would have been believable. The more I delved into the mess of how undocumented immigrants were handled, the less hope I myself had.
Die Orientierungslosigkeit betrifft auch den Leser: Es lässt sich keine exklusive Quelle des Bösen ausmachen. Die Ursachen sind nur halb transparent und eindeutig Schuldige unauffindbar. Die Frage nach der Verantwortung stellt sich damit umso dringender – an den Einzelnen.
When I went to my research trips and saw what is happening in Europe, I felt some sort of witness’s obligation to show this to fellow citizens. As an artist I‘m lucky to not have to find solutions, but I can do the first step: creating awareness and affecting attitudes towards undocumented immigrants. Therefore, it was crucially important to tell the story through immigrants‘ eyes.
When the workers found the courage to tell and show us their working and living conditions, they were heartbreakingly hopeful that we could tell their stories to a wider European audience and that their life could eventually get better. Understanding that a graphic novel is very slow to make and probably not going to get such a big audience, we did two reportages to Helsingin Sanomat, the biggest Finnish newspaper. That aroused a lot of anger in Finnish public and some further enquiries from politicians, but to my knowledge, nothing has changed.
„Deux rives un reve“ – zwei Küsten, ein Traum – fungiert als Motto, das der Graphic Novel vorangestellt wird. Zugleich schafft es eine Verbindung von deren Handlungsverlauf zu einem Stück innereuropäischer Geschichte. Der Sinnspruch findet sich heute als Werbeslogan einer Fähre, die die Städte Tanger und Algericas über die Straße von Gibraltar verbindet. Dasselbe Schiff verkehrte in den 1970er Jahren zwischen Finnland und Schweden – in jener Zeit brachte es zehntausende Finnen auf der Suche nach einem besseren Leben ins Nachbarland. Das Überqueren von Grenzen war von jeher Teil historischer Prozesse. Was also unterscheidet die zeitgenössische Migration von Afrika nach Europa von ihnen?
To me it is the same. People from all over the world have always searched for a better life for themselves and their close ones. Who are we in this time and place to deny that right? In addition, the book gives a few examples of what we Europeans unwittingly do to increase the urge to leave one‘s homeland. For example dumping excess food or clothes on low prizes as well as e-waste to third world countries, or buying fishing rights from them.
Im Verlauf der Geschichte lassen sich die Verbindungen rekonstruieren zwischen jenen, die die Fremden ablehnen, und denen, die sich der Fremde hoffnungsvoll ausliefern. Die Furcht vor dem Ungewissen trennt und eint sie gleichermaßen. Unsichtbare Hände will als Fiktion informieren, aufklären. So erhebt sich auch der Zeigefinger quer über den Buchdeckel nicht gegen Schuldige, sondern gegen das Verbergen.
Ville Tietäväinen
Unsichtbare Hände
avant-verlag 2014
216 Seiten
34,95 €
Schreibe einen Kommentar