Unsterbliche Profile

(Foto: © Andreas Rosenkranz)

Nicht nur das digitale Leben folgt gewissen Eigengesetzlichkeiten, sondern auch das digitale Sterben. Menschen, die zurückbleiben, drücken ihre Trauer im Netz aus und erinnern sich – mithilfe von Profilen, die zurückbleiben.

von Carolin

Eine Bar im globalen Nirgendwo: Den Telefonhörer in der Hand ruft die Bedienung den Namen eines Kunden in den Raum – „für Sie.” Eine düstere Stimme am anderen Ende der Leitung verkündet dem überraschten Gast: „Der Tod kann dich jederzeit und überall ereilen, selbst in einer Kneipe.“ Was sich anhört wie die mäßige Wendung in einem Teenager-Horror-Film ist tatsächlich eine vor zwei Jahren international durchgeführte Werbekampagne für eine Facebook-App namens If I die. Um an öffentlichen Orten weltweit Kontakt mit den potentiellen App-Nutzern aufzunehmen, wurde deren individueller Standort per social media tracking festgestellt, bei dem Daten von Twitter, Facebook-Places und Google ausgewertet werden. Die Stimme am Telefon erinnerte sie nicht nur an das Damoklesschwert des Todes, sondern vor allem daran, mithilfe von If I die Statusnachrichten für ihre Hinterbliebenen als letzte Worte vorzuprogrammieren, „bevor es zu spät ist“.
Das unproblematische Verhältnis zu Überwachungsmechanismen, das der amerikanischen Kampagne zu eigen war, mag sie besonders erscheinen lassen; der Service, den die App bietet, ist inzwischen durchaus verbreitet. Verschiedene Anbieter ermöglichen es ihren Nutzern, Statusnachrichten für ihr digitales Nachleben auf sozialen Netzwerken zu entwerfen. Bei deadsoci.al etwa lässt sich die Veröffentlichung bestimmter Bilder, Nachrichten oder Geburtstagsgrüße über Jahre im Voraus planen.
Das Fortleben der Profile hatten im Jahr 2010 auch die Macher des Online-Portals stayalive für sich entdeckt. Sie schufen eine Plattform, die Profile Verstorbener versammelt – der Dienst ist kostenpflichtig, das Layout blau-weiß-sachlich. Die Presse nannte es „Facebook der Toten“; Teilhaber und ehemaliger Focus-Chefredakteur Helmut Markwort bevorzugte hingegen den Terminus „Unsterblichkeits-Portal“. Die alte Idee vom ewigen Leben wurde hier zur offenkundigen Grundlage eines Geschäftsmodells. Allerdings ist es seit dem kalkulierten anfänglichen Medienrummel ruhig geworden um stayalive.

Virtual Space als Trauerort
Am fehlenden Umgang mit Tod und Trauer im Netz insgesamt liegt das jedoch keineswegs. Dr. Norbert Fischer, Sozial- und Kulturhistoriker an der Universität Hamburg, erforscht die gegenwärtige Trauer- und Erinnerungskultur und beobachtet jene Netzaktivitäten, die Tod und Trauer gewidmet sind, bereits seit ihren Anfängen in den 90er Jahren. „Der Tod ist insgesamt öffentlicher geworden“, resümiert er, und werde entsprechend primär auf Plattformen verhandelt, die ohnehin zur Lebensrealität der Nutzer gehören: allen voran Facebook, Twitter, Instagram.
Das Internet bietet Gestaltungsfreiheiten in Bezug auf den eigenen Tod und die Trauer über das Ableben anderer, die der standardisierte Friedhof nicht zulässt. Im Netz werden über Namen und Lebensdaten hinaus Informationen über den Toten und dessen Wirken abruf- und teilbar. Für Trauernde besteht außerdem die Möglichkeit, Reliquien digital zu teilen – für Norbert Fischer stellt dies eine Verlängerung jenes Bedürfnisses dar, dass sich auch in der Installation von Kreuzen am Straßenrand ausdrücke. Gegenüber der bisher üblichen Verdrängung des Todes aus dem Leben an den Stadtrand und in das Innere dicker Friedhofsmauern, suggeriert das Netz Öffentlichkeit, Individualisierbarkeit und Partizipation. Es bündelt damit auch Potenziale zu einer gesellschaftlichen Enttabuisierung des Todes.
Ein Tabu wird dabei jedoch gestärkt: In einer rein digitalen Trauerkultur verschwindet der tote Körper ganz und damit das (Un-)Fassbare: der Körper, der materiell gegeben und doch nicht mehr ist. Trauer ist allerdings stets mit Leiblichkeit, Materialität und Lokalität verknüpft. „Erinnerung braucht Greifbarkeit und einen Ort, nicht jedoch zwingend den des standardisierten Friedhofes“, fasst Norbert Fischer zusammen. Ein Konzept, das dieser Überlegung begegnet, hat Andreas Rosenkranz vorgelegt. Auch seine Idee rief in den Medien ein breites Echo hervor. Der Steinmetz integriert QR- und DataMatrix-Codes in Grabsteine und spielt so mit dem Kontrast von steinerner Solidität und der fehlenden Greifbarkeit des Virtuellen. Gewissermaßen arbeitet er damit den grundsätzlichen Gegensatz des toten Körpers ästhetisch auf. Rosenkranz selbst reflektiert seine Idee pragmatischer: „Die Vorstellung, das Internet sichere Erinnerung und Unsterblichkeit, ist eine Illusion.“ Gegen den Strom der virtuellen Marktschreier für digitale Unsterblichkeit gesteht der Steinmetz die fehlende Dauerhaftigkeit digitaler Inhalte ein. Zwar versucht er über die Nutzung dynamischer Codes, deren Verlinkungen stetig aktualisiert werden können, zu verhindern, dass der Link am Grabstein irgendwann ins digitale Nirvana des „Error 404“ führt. Denn genau das ist das Schicksal der meisten digitalen Gräber, die auf den virtuellen Friedhöfen der 90er Jahre angelegt wurden. Letztlich kann aber für die Dauerhaftigkeit der digitalen Inhalte keine Garantie geleistet werden. „Deshalb“, so Rosenkranz, „ist der Code auch in das Gesamtbild des Steins integriert – damit am Ende noch etwas bleibt, auch wenn der Link versiegt.“
Die Reaktionen auf seine Idee spannen sich zwischen den Polen „innovativ“ und „pietätlos“ auf. Allgegenwärtig ist die Kritik der Unangemessenheit, wann immer es um digitale Formen des Trauerns geht. Ausdrucksformen wie das allzu leicht von der Hand getippte „R.I.P.“ werden nicht nur von Kulturkonservativen als Banalisierung empfunden. Vor allem die Bildsucht der digitalen Welt bringt zuweilen extreme Formen der Trauer hervor: Das Teilen von sogenannten selfies, amateurhaften Selbstportraits, auf Beerdigungen ist inzwischen keine Seltenheit mehr; unter dem Hashtag „funeral“ finden sich bei Instagram sogar Bilder von aufgebahrten Toten. Man kann diese als extreme Randerscheinungen eines Aushandlungsprozesses betrachten, in dem neue Spielregeln und Ausdrucksformen ermittelt – und ausprobiert – werden. Allerdings gibt es narzisstische Inszenierung und Pietätlosigkeiten auch in der analogen Welt. So sieht auch Norbert Fischer von einer pauschalen Verurteilung digitalen Trauerns ab: „Für feste Regeln der digitalen Trauer ist der Bereich noch zu frisch.“ Werturteile über „richtiges“ und „falsches“ Trauern scheinen generell problematisch. Wie getrauert und auch wie gestorben wird – das sollte in der modernen Welt jedem selbst überlassen sein. Gerade dafür bietet das Netz, im Gegensatz zur bislang stark institutionalisierten und homogenisierten Friedhofskultur, die Rahmenbedingungen.

Tod im (digitalen) Alltag
Bezweifelt werden darf derweil, dass das digitale Zeitalter den alten philosophischen Gedanken realisiert, demzufolge das Leben erst eigentliche Form gewinnt, wenn ihm ein Bewusstsein des Todes gegenübersteht. Indem die Rituale des Netzalltages, wie Statusposts und das Teilen von selfies, auf das Trauern und den Tod übertragen werden, werden sie in eben diesen Alltag integriert. Damit passt sich aber der Tod auch in den gängigen Umgangskodex im social web ein – dessen kritisches Potenzial etwa durch die Kultur des „Likens“ vermindert wird. Denkbar ist daher auch, dass die routinierte Selbstinszenierung eine Auseinandersetzung mit der Realität des Vergänglichen eher überblendet. Soll die Institutionalisierung der Trauer tatsächlich abgelöst werden, so müsste auch ein Hinterfragen solcher Automatismen einsetzen, auf deren Basis soziale Netzwerke wie Facebook derzeit funktionieren. Andernfalls würde der Tod vollends auf die Riten des digitalen Lebens reduziert und damit geleugnet werden.
Das Extrem einer solchen Leugnung zugunsten eines absolut gesetzten „digitalen Lebens“ führt die US-amerikanische Firma LifeNaut vor Augen. Sie bietet schon jetzt die Entwicklung eines persönlichen Avatars an, der über den Tod hinaus mit der Nachwelt digital interagieren könnte. Umso deutlicher wird in dieser Wirklichkeit gewordenen Science-Fiction-Fantasie, dass mit dem Ausblenden des realen Todes auch das Leben nicht länger von einem binären Code zu unterscheiden ist. Sofern der menschliche Verstand diesen Unterschied aber weiterhin macht, wird er seinen Sinn wie stets im untrennbaren Widerspruch von Leben und Tod finden müssen – und im hinzugetretenen untrennbaren Widerspruch von analoger und digitaler Realität.

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