Mit Geschichten um Kinder, die an Krankheiten sterben, rührten die italienischen „lacrima movies“ in den 1970er Jahren Millionen von Zuschauern zu Tränen. Diese Form des Melodramas erreichte damals ein wesentlich größeres Publikum als die heute weitaus bekannteren Polizeifilme und Thriller, Eltern gingen mit ihren Kindern begeistert in Filme, die von sterbenden Kindern handelten. Ein Rückblick auf ein heute völlig vergessenes Genre.von David
Bevor er stirbt, möchte Luca noch den örtlichen Vergnügungspark besuchen. Der Zehnjährige, der zu Beginn des Films noch quicklebendig, aber auch etwas traurig durch Perugia tollte, liegt von seiner akuten Leukämie sichtlich gezeichnet in einem Krankenhausbett. „Wann denn sonst?“, antwortet Luca auf die Nachfrage seines Vaters Roberto, ob er das wirklich sofort machen wolle. Roberto lotst also seinen todkranken Sohn mitten in der Nacht aus dem Krankenhaus in den nahegelegenen Luna Park und überzeugt die Besitzer, die Fahrgeschäfte extra für seinen Sohn aufzumachen. Die emotionale Musik schwillt an, während das Kind in den Armen seines Vaters Touren fährt. Aus dem Off hören wir, wie Luca Roberto anvertraut, dass er krank vielleicht glücklicher war als vorher, weil sich sein alleinerziehender Vater endlich Zeit genommen habe. „Schade, dass wir uns nicht mehr sehen werden“ – bei einer Fahrt auf dem Pferdekarussell senkt sich Lucas Kopf endgültig an die Brust seines Vaters.
Mit Tränen in den Augen oder zumindest einem dicken Kloß im Hals verließen etwa 80 Zuschauer die Vorstellung von L’ultima neve di primavera im Frankfurter Filmmuseum. Der Film lief im Sommer 2018 im Rahmen des fünften Terza-Visione-Festivals, das sich alljährlich dem italienischen Genrekino der 1950er bis 1980er Jahre in all seinen Facetten widmet. Das Melodrama aus dem Jahr 1973, in dem der kleine Luca um die Zuneigung seines alleinerziehenden Workaholic-Vaters kämpft, dann aber von Leukämie dahingerafft wird, gehörte zu den überraschenden Highlights der Veranstaltung.
Klassisches italienisches Genrekino: heutzutage denken die meisten vor allem an Komödien mit Bud Spencer und Terence Hill oder an Westerns. Kenner schätzen auch die actionreichen Polizei- und Gangsterfilme, die Serienmörder-Thriller, die Horrorfilme und die Erotikkomödien. Die sogenannten „strappa-lacrime“ bzw. „lacrima movies“ (Tränendrücker / Tränenfilme) sind hingegen so gründlich vergessen, dass man damit selbst eingefleischte Fans des italienischen Kinos verblüffen kann, wie im Sommer 2018 im Frankfurter Filmmuseum geschehen. „Es war wirklich höchste Zeit, einen dieser Filme zu zeigen“, versichert Christoph Draxtra, Leiter des Terza-Visione-Festivals und großer Kenner des italienischen Films.
L’ultima neve di primavera kam seinerzeit nicht nur in Italien, sondern auch in Deutschland, Großbritannien und Japan überragend beim Publikum an – und trat damit bis etwa Mitte der 1980er Jahre eine Welle von sentimentalen Filmen los, in denen Kinder, manchmal Teenager, im Mittelpunkt stehen und häufig an Krankheiten oder Unfallverletzungen sterben.
Diese Form des Melodramas erreichte damals ein wesentlich größeres Publikum als die heute weitaus bekannteren Polizeifilme und Thriller. „Da gingen tatsächlich Eltern mit ihren Kindern nachmittags ins Kino, um einen Film zu schauen, in dem ein Kind stirbt“, erläutert Christoph Draxtra. „Das ist aus heutiger Sicht unfassbar.“ Die 1970er Jahre waren in Italien für das Kino ein goldenes Zeitalter, aber politisch eine höchst unsichere Zeit. Die sogenannten „bleiernen Jahre“ Italiens waren von rechts- und linksradikalen Terroranschlägen, politischen Morden, instabilen Regierungen und wirtschaftlicher Rezession geprägt. Die starke Verunsicherung der Zeit wurde vom populären Kino aufgegriffen. Während die Polizeifilme das oft explizit taten, reagierten die Melodramen um sterbende Kinder eher implizit, indem sie sich in den privaten Kreis der Familie zurückzogen. Zugleich zielten sie auf eine existenzielle Verlustangst, nämlich den wertvollsten Menschen durch Krankheit oder Unfall zu verlieren. Das Spiel mit dieser Verlustangst erkläre wohl den damaligen, ungeheuren Erfolg dieser Filme, so der Leiter des Terza-Visione-Festivals.
Die „lacrima movies“ handeln von Verlust, Sterben und Tod. Trotzdem ist das Ableben des kindlichen Protagonisten am Filmende oft nur der letzte, sozusagen ultimative Verlust, denn Verlust kennzeichnet das familiäre Umfeld der Hauptfiguren meist von Beginn an. Die verstorbene oder weggelaufene Mutter weckt beim bereits erwähnten Luca, aber auch bei Andrea (Incompreso) oder Giacomino (Il venditore di palloncini) einen erhöhten Wunsch nach Geborgenheit und Zärtlichkeit, die der alleinerziehende Vater – ob Anwalt, Diplomat oder Alkoholiker – nicht erfüllen kann. Selbst mit zwei Elternteilen wird der kindliche Protagonist alleine gelassen, wenn diese etwa zu sehr mit ihren Streitigkeiten, ihrem nächsten Drink oder ihren mondänen Strandhotel-Affären beschäftigt sind (wie in Bianci cavalli d’Agosto). Die Kleinen sterben an Leukämie, Anämie oder Gehirntumoren, aber die Krankheiten wirken oft wie Symbole: die Protagonisten gehen in ihrer kaputten Familie an zu wenig Liebe zugrunde. So reaktionär das klingen mag (und „lacrima movies“ bedienten auf gewisse Weise reaktionäre Ängste): das Ideal einer heilen Familie wird nie visualisiert, sondern ist hier „verlorenes Paradies“. Der nahende Tod bringt aber meist Einsicht bei allen Beteiligten: Elternteil(e) und Kind wissen nunmehr, dass die Zeit knapp bemessen ist und nutzen sie zur Versöhnung und für letzte gemeinsame, liebevolle Augenblicke.
Ob die „strappa-lacrime“ noch heute emotional berühren, hängt natürlich davon ab, ob sich ein Zuschauer ernsthaft darauf einlassen mag – und andererseits auch davon, wie sehr sich die Filme selbst auf ihre jungen Protagonisten einlassen. Betrachtet man die Figuren, die lacrima-Kinderstar Renato Cestiè verkörperte, erkennt man ein breites Spektrum. Seine Luca-Rolle in L’ultima neve di primavera ist komplex, lässt ihm genügend Raum, um einen Charakter mit Eigenheiten, Ecken und Kanten zu entwickeln. Der Film ist ein vielschichtiges Vater-Sohn-Drama, die tödliche Krankheit taucht 20 Minuten vor Ende auf, und erst in den eingangs geschilderten, letzten fünf Minuten werden die Zuschauer emotional geflutet. L’ultima neve di primavera nimmt Luca in all seinen Facetten ernst, lehrt den Zuschauer, ihn auch ernst zu nehmen – und so ist sein Tod umso emotionaler. Als Giacomino in Il venditore di palloncini liegt Renato Cestiè hingegen schon ab der 20. Minute todkrank im Bett und hat fast nichts anderes mehr zu tun, als mit Kulleraugen süß zu blicken. Währenddessen verirrt sich der Film in Nebenplots um den Vater und verliert dabei den kranken Jungen wortwörtlich aus den Augen. Dessen Tod (off-screen bzw. stark symbolisch verschlüsselt) kann dann auch weniger emotionale Resonanz finden. Das ist oft so bei „strappa-lacrime“, die sich fast nur auf die Niedlichkeit ihrer Protagonisten stützen. L’ultimo sapore dell’aria und Dedicato a una stella beispielsweise gehören nicht zufälligerweise zu den Highlights des Genres, denn ihre bereits heranwachsenden Teenager-Protagonisten können nicht mehr mit kindlicher Niedlichkeit punkten. Diese Filme müssen sie bedingungslos ernst nehmen – und tun es auch.
Die lacrima movies waren für gut zehn Jahre ein integraler Bestandteil des italienischen Kinos und hinterließen auf der ganzen Welt Flüsse an heißen Tränen. Doch diese sind heute vertrocknet, und ihre Flussbetten gewissermaßen erodiert – und das, obwohl die gleichen Regisseure, Autoren, Kameraleute und Komponisten beteiligt waren wie bei bekannteren Werken des italienischen Films. „Ruggero Deodato, der Regisseur von Cannibal Holocaust, hat zum Beispiel auch einen lacrima movie gedreht, in dem ein Junge aus dem römischen Proletariat europäischer Jugendschwimmmeister werden möchte, obwohl er einen Hirntumor hat“ erklärt Draxtra. „Der Film heißt L’ultimo sapore dell’aria, aber den kennt heute kaum jemand.“
Wahrscheinlich nicht einmal Quentin Tarantino, der sich oft als Bewunderer Deodatos und des italienischen Kinos im Allgemeinen geoutet hat. Unter dem Label „Quentin Tarantino mag das“ kann man besonders in Deutschland kurzfristig Aufmerksamkeit für vergessene Filme generieren. Bis der fleißige Italo-Epigone in einem Interview über eine vergangene Videosichtung von Ruggero Deodatos L’ultimo sapore dell’aria schwärmt und diesen Titel „vermarktbar“ macht, dürfte aber noch einige Zeit vergehen, in der diese Art von Filmen nur einen kleinen Kreis von Zuschauern bei Retro-Festivals verblüffen – und zu Tränen rühren.
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