Thuenlam: ein Hoch auf die Freundschaft

Eine Woche bin ich Teil einer bhutanischen Familie und ihres Alltags. Das Land und seine Menschen haben mich gepackt. Ein persönlicher Bericht.

von bexdeich

Sattes Grün soweit das Auge reicht. Die Luft riecht nach Nadelholz und nasser Erde. Der Jeep schiebt sich mit 30 km/h auf der matschigen Schotterpiste an den dicht bewaldeten Berghängen entlang, von der Hauptstadt Thimphu in Richtung des 230 Kilometer entfernten Bhumtangs. Chimi schläft friedlich, den Kopf an meiner Schulter angelehnt, und ich kann es immer noch nicht glauben: Ich bin in Bhutan, diesem winzigen, abgeschotteten Land zwischen den Riesen Indien und China.
Chimi und ich wohnten während eines Auslandssemesters in Amsterdam zusammen im Studentenwohnheim und wurden gute Freunde. Nun bot sich die Gelegenheit, sie in ihrer Heimat zu besuchen. Laut Chimi hat jeder bhutanische Staatsbürger das Recht, pro Jahr zwei Gäste einzuladen. Grundvoraussetzung: Das letzte Treffen darf dabei nicht länger als zwei Jahre zurück liegen und die Personen müssen mindestens sechs Monate am selben Ort gelebt haben. Eigentlich sind Aufenthalte in dem winzigen Land des „Donnerdrachens“ nur über eines der registrierten Reiseunternehmen Bhutans möglich. Die Kosten pro Tag belaufen sich auf etwa 250 US-Dollar. Außerdem schreibt der bhutanische Staat vor, dass der Tourist nicht alleine unterwegs sein darf und stets in Begleitung eines Fahrers und einer Reiseleitung sein muss. Erst seit Mitte der 1970er Jahre hat sich Bhutan dem Tourismus geöffnet. Die hohen Preise und Auflagen dienen offiziell dazu, die eigene Kultur zu schützen und einen nachhaltigen Tourismus zu ermöglichen und gleichzeitig durch die meist wohlsituierten Besucher Devisen ins Land zu bringen.
Für mich wurde bei der Einreise lediglich eine Gebühr von 40 US-Dollar fällig und ich darf mich in Begleitung von Chimi oder einem Mitglied ihrer Familie frei bewegen. Neben diversen Anträgen, Formularen und der schriftlichen Einladung müssen wir für den Visumantrag unsere Freundschaft beweisen: zwei Seiten Informationen über unser Zusammenleben, gemeinsame Unternehmungen und Uni-Kurse, einige Bilder von uns beiden, die Mietverträge und Nachweise über das Studium an derselben Universität. Und dann: Antrag abgelehnt. Chimi trug auf ihrem Bewerberfoto nicht die bhutanische Staatstracht und ein Scan meines niederländischen Studentenausweises fehlte. Nach vier Stunden fieberhafter Suche finde ich den Ausweis, Chimis Bild wird ausgetauscht. Mir kommen Zweifel, ob ein Wiedersehen tatsächlich klappt: Es sind nur noch vier Wochen bis zum geplanten Abflug. Der Urlaub ist bereits eingereicht. Uns rennt die Zeit davon. Dann die Erlösung: Visumantrag akzeptiert.

„One is good. Four is better”
Ein überlebensgroßes Konterfei des regierenden Königspaares heißt mich willkommen, als ich in Paro aus dem Flugzeug steige. Auch auf dem Weg in die Hauptstadt – auf der einzigen zweispurigen und asphaltierten Straße im ganzen Land – lächeln sie mir von riesigen Plakaten entgegen. Die ehemalige britische Kolonie ist eine konstitutionelle Monarchie. Jigme Khesar wurde 2008 im Alter von 28 Jahren gekrönt und ist eines der jüngsten Staatsoberhäupter der Welt. Sein Vater führte in den 1970ern das inzwischen viel diskutierte „Bruttonationalglück“ ein: Förderung einer nachhaltigen Gesellschafts- und Wirtschaftsentwicklung, Schutz der Natur als oberste Priorität, Bewahrung der kulturellen Identität, Erhalt des Wohlbefindens sowie gute Regierungs- und Verwaltungsstrukturen. Sein Sohn führt dieses Prinzip konsequent weiter und ist bei den 750.000 Bhutanern sehr beliebt. Fotografien der Königsfamilie oder der fünf bisherigen Könige sind überall in den Geschäften, Wohnzimmern und Restaurants zu sehen. Chimis Mutter trägt sogar eine Kette mit einem Bild der königlichen Familie. Nach einigen Tagen fällt mir der deutliche Überschuss an Frauen auf den Familienportraits auf. Chimis Vater klärt mich mit seinen wenigen Brocken Englisch auf: „Four sisters. One is good. Four is better“. Der Vater des jetzigen Königs, Jugme Khesar, ist mit vier Schwestern verheiratet – obwohl Polygamie im buddhistischen Bhutan offiziell untersagt ist. Während ich mich fast am scharfen Chili-Käse-Eintopf verschlucke, sind alle anderen der Familie völlig unbeeindruckt. Diese Unaufgeregtheit und Gelassenheit sind nicht nur für Chimis Familie typisch, ich begegne ihnen überall.
Von der Küchenbank aus beobachte ich das morgendliche geschäftige Treiben in der kleinen Pension von Chimis Eltern und trinke eine Tasse mit frisch aufgebrühtem Schwarztee und viel Milch, der hier zu allen Gelegenheiten gereicht wird. Zwischendurch steckt Chimis Großvater den Kopf durch die Tür und begrüßt mich mit seinem charmanten zahnlosen Grinsen. Er ist als Jugendlicher zusammen mit einem buddhistischen Priester aus Tibet nach Bhutan geflohen und lebte viele Jahre als Viehhirte, bevor er seine drei Frauen kennen lernte und im Dorf einen kleinen Tante-Emma-Laden eröffnete.

Der Wandel der Generationen
Eine seiner Töchter ist Chimis Mutter, Karma. Sie ging nur drei Jahre zur Schule, da sie im Haushalt helfen musste und schließlich das Geschäft übernahm. Chimis Vater Phurpa wuchs in einem Kloster auf. Früher war es für einen der Söhne der Familie üblich, ins Kloster zu gehen und sich dort auf das Dasein als Mönch vorzubereiten. Als ich nach dem Grund für seinen Ausstieg frage, schmunzelt er: „Mit 16 Jahren wurden Frauen einfach zu interessant“. Er verliebte sich in Karma. Phurpa ist in seinem Leben bereits Fahrer für Touristen, Koch, Bauarbeiter und vieles mehr gewesen. Während unserer Ausflüge zu Käsereien, buddhistischen Tempeln und einem entlegenen Museum habe ich den Eindruck, es gibt niemanden, der den verschmitzten und ständig Betel kauenden Phurpa nicht kennt. Zurzeit unterstützt er seine Frau im Laden und in der kürzlich eröffneten Pension.
Neben mir schlürft Chimis kleiner Bruder, der 13-jährige Zoepa, seinen morgendlichen Tee. Er berichtet mir in fast perfektem Englisch von seinem Leben im acht Stunden entfernten Internat. Seine große Schwester Kinley klaut ihrem Vater unterdessen einen der Pfannkuchen aus Buchweizen, die er gerade fürs Frühstück bäckt. Sie geht ebenfalls auf das Internat. Chimi hat Dank eines Stipendiums die Highschool und das College in den USA abgeschlossen. Ihr Bruder Nono besucht eine Hochschule in Indien. Obwohl alle vier Kinder verstreut leben, sind sie tief in ihrer Heimat verwurzelt und bilden als Familie eine unerschütterliche Einheit.

„Die halten Dämonen und böse Geister ab“

Auf dem Rückweg von einem Ausflug in der Dämmerung schleichen Chimi, Nono und ich uns in den Dzong des Distrikts, der majestätisch über dem Tal thront. Wir nutzen den Hintereingang, denn die beiden tragen nicht die traditionelle Staatskleidung, die beim Betreten einer solchen Klosteranlage Pflicht ist. Im Inneren des menschenleeren Dzongs erklären mir die beiden, dass die Jahrhunderte alte Anlage immer noch als Sitz der Verwaltung und zugleich als religiöses Zentrum für die überwiegend buddhistische Bevölkerung dient. Und ich möchte noch etwas anderes wissen: Schon auf den Autofahrten ist mir die traditionelle und ähnliche Bauweise wirklich aller Arten von Gebäuden aufgefallen, Tankstellen mit inbegriffen. Nono erklärt, dass diese per Gesetz vorgeschrieben sei und dem Erhalt der typischen bhutanischen Architektur diene. Etwas anderes irritiert mich: An die Hauswände sind oft überlebensgroße, erigierte Penisse gemalt. „Die halten Dämonen und böse Geister vom eigenen Heim ab“, erzählt Chimi trocken.

Facebook und Gebetsfahnen
Den religiösen Traditionen steht die voranschreitende Öffnung des Landes gegenüber: 1999 erlaubte der König beispielsweise Fernsehen und Internet und seit 2003 gibt es auch ein Mobilfunknetz. Abgesehen von einigen indischen Sendern ist das Fernsehen stark vom staatlich kontrollierten Programm geprägt, das sich aus Nachrichten und Bildungssendungen zusammensetzt. Internetseiten wie Facebook lassen sich problemlos aufrufen. Andere westliche Errungenschaften wie Werbetafeln, Filterzigaretten oder Plastiktüten sind in Bhutan dagegen weiterhin untersagt.
Am Tag vor der Abreise wandern Chimi und ich zu einem mit unzähligen Gebetsfahnen gespickten Aussichtspunkt, um von oben einen Blick auf die 100.000 Einwohner zählende Hauptstadt Thimphu zu werfen. Während des Aufstiegs übt Chimi mit mir ein wenig Dzongka, die Amtssprache Bhutans. Oben angekommen, sagt sie mir: „Freundschaft heißt übrigens Thuenlam.“

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