Die Etablierung einer Notlösung

Über anderthalb Millionen Menschen werden in Deutschland regelmäßig mit Lebensmitteln von den Tafeln versorgt. Der wachsende Bedarf steht in direktem Bezug zur Untätigkeit der Politik – da sind sich Betreiber und Wissenschaftler einig.

von Anne & julibee

Maria hat diesmal Glück gehabt, sie hat die Nummer 3 gezogen. Sie stellt sich mit ihrem Einkaufstrolley hinter die ersten beiden in der Schlange an, um zu bezahlen. Da sie mit ihrem fünfjährigen Sohn alleine lebt, zahlt sie 2,50 Euro, zwei Euro für sich und 50 Cent für Christian. Ihr Name wird für heute auf der Liste abgehakt und sie erhält drei verschiedenfarbige Karten. Sie kennt den Ablauf: zuerst ganz zum Ende des Raumes zur Gemüse- und Obstabteilung. Die Mitarbeiter wissen bereits, dass Maria für zwei Leute einkauft und packen genügend Äpfel, Mohrrüben und Kartoffeln für eine Woche in ihren Beutel. Heute gibt es außerdem Mangos, Ananas und Erdbeeren und für ihren Sohn bekommt sie sogar eine Extraschachtel der roten Früchte. Weiter zur nächsten Station: Hier stehen, hinter dem Tisch mit Schokolade, in zwei großen Kühlschränken Milch, Joghurt und andere Molkereiprodukte. Am letzten Tisch gibt es Backwaren. Aus den vielen verschiedenen Brotsorten wählt sie ein Roggenmischbrot und eine Tüte Brötchen aus. Auf dem Weg nach draußen verabschiedet sich Maria von den Mitarbeitern und den anderen Nutzern: „Vielen Dank, bis nächste Woche!“. Nach einem kurzen Plausch mit einem Bekannten im Flur verlässt Maria das Gebäude des ehemaligen Kindergartens in Lobeda-West, in dem sich seit Juli 2011 die Jenaer Tafel e.V. befindet.
Innerhalb einer Woche unterstützt der Verein bis zu tausend Menschen, die ihre Bedürftigkeit nachweisen können. Das erfordert ein ausgeklügeltes System in der Verteilung: Für jeden Tag gibt es eine Liste mit Namen der Nutzer, die an diesem Tag kommen dürfen. Ist einer von ihnen einmal verhindert, muss er sich vorab entschuldigen. Das Warenangebot ist natürlich saisonbedingt. „Wir sind keine Kaufhalle und kein Supermarkt, mit leerem Beutel geht man aber nicht raus“, sagt uns Wilfried Schramm, Vorsitzender des Jenaer Tafel-Vereins. Gemeinsam mit 80 Mitarbeitern, fast 90 Prozent davon ehrenamtlich, organisiert er, als Leiter der zweitgrößten Tafel Thüringens, Hilfe für Menschen, die gerade mal zwei bis drei Euro in der Woche für ihre Lebensmittel übrig haben: Sozialhilfeempfänger, Arbeitslose und Senioren mit geringer Rente.
Einmal in der Woche arbeitet Susi in der Cafeteria der Tafel. Als Studentin mit gestrichenem Bafög blieb ihr selbst mit zwei Nebenjobs am Monatsende nicht viel Geld übrig. Deshalb wurde sie selbst Nutzerin der Tafel. Nach einiger Zeit wurde sie angesprochen, ob sie auch Interesse hätte, mitzuhelfen. Das Engagement macht ihr Spaß, die Stimmung im Team ist hervorragend.

Handlungsdruck für Politiker fehlt
Die erste deutsche Tafel entstand vor 20 Jahren nach amerikanischem Vorbild in Berlin. 2011 gab es bereits über 900 davon deutschlandweit. Der Jenaer Soziologe Stephan Lorenz, der sich wissenschaftlich unter anderem mit Konsum und Überschuss beschäftigt, betrachtet die Arbeit der Tafeln als zweischneidiges Schwert: „Es gibt gute Presse dafür, dass sich Menschen dort ehrenamtlich betätigen und Gutes tun.“ Die Gründe, die Menschen zu Tafelnutzern machen, würden in der Öffentlichkeit jedoch kaum diskutiert. Eine kritische Debatte müsste bei der Untätigkeit der Politik ansetzen, durch die eine ausgeweitete Nutzung der Tafeln erst möglich gemacht wird. Behörden, so Lorenz, verweisen von sich aus auf die Tafeln, wenn jemand zu ihnen kommt, der in das Bedürftigkeitsspektrum fällt. Dies nehme der Politik den dringenden Handlungsdruck. „Es gibt ja jemanden, der ihnen die Arbeit abnimmt. Die Tafel protestiert nicht dagegen und etabliert sich dadurch als ein Bestandteil der Gesellschaft.“ Anstatt also daran zu arbeiten, dass die Zahl der Nutzer zurückgeht, wovon schon seit Jahren geredet wird, steigt ihre Zahl, aber auch die der Tafeln und deren Mitarbeiter stetig an. „Sie ist zu einem expandierenden Geschäft geworden“, konstatiert der Soziologe.

Soziologe Lorenz: Tafeln sind zu "einem expandierenden Geschäft geworden" (Foto: Anne Günther/ FSU)
Soziologe Lorenz: Tafeln sind zu "einem expandierenden Geschäft geworden" (Foto: Anne Günther/ FSU)

Auch Herr Schramm stimmt der Kritik zu: „Wir bräuchten keine Tafeln, wenn die Ursachen beseitigt würden.“ Jeden Morgen geht er in die Büroräume des Vereins mit dem Wunsch, zu helfen. Die meisten Nutzer begegnen ihm mit Dankbarkeit, wie Maria. Es gibt hier aber auch unzufriedene Menschen, die den Anspruch erheben, wählerisch zu sein. Diesen Nutzern begegnet Schramm schlichtweg mit der Feststellung: „Wir können nur das verteilen, was wir bekommen.“ Durch den behördlichen Verweis auf die Tafeln entsteht bei einigen Nutzern eine falsche Erwartungshaltung, die mit der Freiwilligkeit der Tafel-Arbeit in Konflikt gerät, erklärt Lorenz.
Zurück im Raum der Ausgabe, wo reges Stimmengewirr herrscht. Die meisten der Mitarbeiter sprechen mehrere Sprachen, was vor allem für die Menschen mit geringen Deutschkenntnissen sehr hilfreich ist. Als Gründe für die Nutzung der Tafel nennt der Jenaer Soziologe zwei entscheidende Motive: Erstens die Entlastung des Haushaltsbudgets – dieser Kostenpunkt überwiegt bei vielen Befragten. Zweitens stellte sich heraus, dass die Nutzer vor Ort mit anderen Betroffenen in Verbindung treten können. Beim gemeinsamen Schlangestehen oder Essen in der Tafelstube werden soziale Kontakte geknüpft, bilden sich Stammtische, Erfahrungen werden ausgetauscht. Der persönliche Umgang zwischen Mitarbeitern und Nutzern ist von Tafel zu Tafel unterschiedlich. In Jena ist die Atmosphäre freundlich, bisweilen sogar herzlich. Für diese Vertrautheit sorgen unter anderem auch die verschiedenen Aktionen, die von der Tafel organisiert werden. So gab es zu Weihnachten einen Kaffeekranz inklusive Besuch des Weihnachtsmanns mit kleinen Geschenken für die Kinder.
Neben Lebensmitteln werden in dem nicht an allen Ecken ausreichend sanierten Plattenbau auch andere Hilfen ausgeteilt. Eine ältere Frau bringt in ihrem kleinen Rollkoffer aussortierte Textilien in die Kleiderkammer: „Ich brauche die nicht mehr. Bevor ich sie wegschmeiße, soll sich jemand anderes daran erfreuen.“ Sehr günstig kann hier gute und einwandfreie Kleidung gefunden werden. Das Angebot wird durch Spenden von Privatpersonen und Bekleidungsgeschäften ermöglicht.

„Jeden Tag etwas schaffen“
Die vielen Eindrücke lassen ein komplexes Bild entstehen. Zum Einen ist die Arbeit der Tafeln und ihren ehrenamtlichen Mitarbeitern beachtenswert und keinesfalls zu unterschätzen. Diese Erkenntnis ist kein Geheimnis, besonders nicht unter den Tafelorganisatoren selbst. Es steht nicht zu erwarten, dass die Bedürftigkeit in Deutschland über Nacht, durch einen einzelnen politischen Beschluss, sinken wird. Ein wünschenswertes und realistisches Ziel wäre der allmähliche Rückgang der Tafeln.
„Jeden Tag etwas schaffen“, das Motto des Jenaer Tafelvorstandes Herrn Schramm, könnte auch zum Leitgedanken der Politik werden. Anstatt eine große Änderung anzustreben, die sich nicht durchsetzen kann, könnten auch mehrere kleine Schritte zu einer Veränderung führen.

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