Städtebericht: Istanbul

von Carola

Mein Auftrag ist nun also, dem interessierten Leser Istanbul, die Stadt am Bosporus mit ihren geschätzten 15 bis 20 Millionen Einwohnern, mal so mir nix, dir nix vorzustellen. Und um es gleich vorweg zu nehmen: es scheint unmöglich zu sein. Mittlerweile ist es wieder hell geworden und noch immer habe ich nichts aufs Papier gebracht, was auch nur annähernd dieses liebenswerte Monster von Stadt beschreiben könnte, auch
wenn ich schon vier Seiten Liebeserklärung ins Datennirvana schickte. Was auf jeden Fall zutrifft, ist, dass
alles zutrifft. Istanbul ist Weltstadt und Kaff, moderne Metropole und traditionelles Dorf, eine reiche Glitzerwelt und völlig heruntergekommenes Ghetto, eine Oase der Ruhe und das Inferno der Hektik, Kulturstadt und kulturloses Niemandsland, Geschichte und Zukunft und noch tausend mehr solcher Gegensatzpaare mit allen Facetten dazwischen.

Fangen wir auf der europäischen Seite an, denn dorthin kommt der normale Istanbulbesucher im Allgemeinen zuerst. Die allseits bekannten und beliebten Ausflugsund Besichtigungsziele haben sich in „Europa“ angesiedelt: Dort ist das westeuropäisch geprägte Viertel Beoğlu mit der wahrscheinlich größten
Fußgängerzone der Welt, der Istiklal Caddesi (früher die Flaniermeile der Bourgeosie), und einem äußerst ausdifferenzierten Nachtleben zu finden. Auch die historische Altstadt mit den berühmten Moscheen
(Sultan Ahmet Camii und Süleymaniye Camii), Kirchen (Aya Sofia) und sonstigen Zeugen der mehr als 3000-jährigen Geschichte des früheren Konstantinopel und noch früheren Byzanz liegt auf der europäischen Seite. Weiterhin ist auch der Große Basar dort angesiedelt – vielleicht die Top-Attraktion nicht nur für Touristen, sondern hauptsächlich wahrscheinlich für die Verkäufer, die mit all dem nutz und wertlosem Plunder, der dort zu horrenden Preisen an Leute, die denken, dass die nahöstliche Kultur wirklich so ist wie in 1000 und einer Nacht beschrieben, verkauft wird, das Geschäft ihres Lebens machen.

Und ein Händchen fürs Geschäftemachen haben hier offensichtlich viele Leute. An jeder Ecke findet sich irgendjemand, der irgendwas verkauft; und wenn es nur ein paar Packungen Taschentücher oder kaltes
Wasser aus dem nächsten Laden sind. Die Istanbuler Wirtschaft funktioniert noch auf der Mikroebene
(jedenfalls meistens und was den täglichen Bedarf angeht) und das ist nett. So muss man lange suchen, bis
man eine große Shoppingmal l – die es mittlerweile leider natürlich auch gibt – findet. Selbst hinter der doch
schon etwas protzigen Bezeichnung „Hypermarket“ verbirgt sich eher so etwas wie ein Tante-Emma-Laden.

Nachdem dann zwei Mal das Brot fürs Frühstück dort gekauft wurde, kennt man sich; und nach einer Woche ist es schon gar nicht mehr nötig zu bestellen, weiß der „Onkel“ im Laden doch sowieso, was man will.
Als Onkel (amca, das aber eher seltener) oder Tante (teyze) gelten Menschen, die schon ein bisschen älter sind, als Bruder (abi) und Schwester (abla, das ist die ältere Schwester) gelten gleichaltrige oder jüngere Leute. Diese familiären Bezeichnungen machen den Kontakt auch mit Fremden sehr schnell sehr persönlich und das ist sehr bezeichnend für den sozialen Umgang untereinander. Die Menschen empfangen hier so ziemlich jeden mit einer Herzenswärme und Offenheit, die ihresgleichen sucht; man achtet aufeinander und alleine ist man sowieso nie.

Der Çay ist dabei das Mittel, um Bekanntschaften zu pflegen oder zu machen – wird man doch hier von so ziemlich jedem Gesprächspartner genötigt, auf wenigstens einen Tee mit in eines der unzähligen Çayhane (Teehaus) oder Çaybahce (Teegarten) zu kommen. Meistens werden es dann aber eher so sechs bis sieben Gläser und ein paar Stunden später. Doch die typischen Touri-Gegenden sind nicht alles, was Istanbul ausund reizvoll macht. Der Blick hinter die Kulissen kann manchmal ernüchternd sein, zeigt aber vielleicht
auch den „wahreren“ Charakter des „Schmelztiegels der Kulturen“. Denn dieser äußert sich nicht nur darin,

dass Klischees von Morgenlandromantikern erfüllt werden, sondern auch in den unterschiedlichen Charakteren einzelner Stadtteile, die so völlig verschieden voneinander sein können. So ist es nicht unüblich, dass direkt an ein sehr „verwestlichtes“ Viertel mit Shoppingmall und der „Starbucks“-Dichte einer amerikanischen Großstadt ein äußerst religiös und traditionell geprägtes anschließt, in dem kaum Frauen auf der Straße anzutreffen sind oder aber auch nur Frauen und Kinder und daneben dann gleich ein Viertel folgt, in dem kein einziger Türke lebt (in Istanbul leben übrigens angeblich circa drei Millionen Deutsche). Vom Okzident in den Orient und zurück in fünf Minuten ist hier also machbar.

Aber auch von Europa nach Asien kommt man schnell und einfach, per Fähre nämlich, oder – wenn man ganz viel Zeit mitbringt – mit dem Bus „crossing the bridge“. Der Verkehr im Ausland ist ja eh immer ein beliebtes Thema und soll deshalb auch hier nicht fehlen: Erwartungsgemäß fahren alle wie blöd, die Straßen sind ständig verstopft und als Fußgänger schwebt man in and a u e r n d e r L e b e n s g e – fahr. Und noch ein spezieller Tipp für Adrenalinjunkies: Fahrradfahren ist wahrscheinlich absolut tödlich. Wenn man nicht durch die Berge – derer es viele gibt – erledigt ist, dann hundertprozentig durch einen verrückten Taxi-, Dolmuş- oder Busfahrer.

Nun aber wieder zum Kontinenthopping: Es lohnt sich auf jeden Fall, um mal abseits von touristischer Verwertungslogik das ein bisschen ruhigere, unhektischere und vielleicht auch traditionellere Leben zu sehen. Auf der asiatischen Seite ist es im Grunde aber ziemlich ähnlich wie auf der anderen Seite, eben nur „normaler“ und viel grüner. Sehenswürdigkeiten gibt es auch, weil ja irgendwie doch alles sehenswert ist, die kennt zwar niemand, aber zu entdecken gibt es immer etwas. Ein ganz besonders entzückendes Detail von Istanbul, das mir sehr ans Herz gewachsen ist, sind die vielen Tiere dort. Auf den Quadratmeter kommen sicherlich (meiner völlig übertriebenen, subjektiven und unwissenschaftlichen Schätzung nach) 10 Katzen und 4 Hunde, die aber alle ganz reizend und lieb sind – außer nachts, aber schlafende Hunde soll man ja bekanntlich nicht wecken. Und wenn man‘s doch aus Versehen tut, kommt bestimmt ein netter Taxifahreronkel und rettet die Situation und das Leben des von kläffenden Rottweilern und Pitbulls
Eingekreisten. Ansonsten sind die aber sehr lieb, liegen den ganzen Tag faul in der Sonne herum und
genießen, dass offensichtlich jeder Istanbuler ein Herz für Tiere hat und es ihnen deshalb niemals an Wasser
und Essen mangelt.

An Essen mangeln hingegen tut es dem Vegetarier, da die türkische Küche ausschließlich aus Fleischgerichten zu bestehen scheint. So wird selbst der eigentlich vegetarischen Linsensuppe gerne mal das
ein oder andere Bröckchen beigemischt; auch der kleine Hunger will mit Deftigem gestillt werden. Aber zum Glück gibt es als letzten Ausweg immer noch den guten alten Salat, der bei Temperaturen um die 40 Grad im Sommer (die sich wie mindestens das Doppelte anfühlen) sowieso viel besser als doofes, warmes und fettiges Essen ist. Um nun also noch mal abschließend Istanbul zu charakterisieren: Eine Stadt der Superlative, die grenzenlos scheint, es aber doch nicht ist und die ich nicht ausreichend beschreiben kann und (wenn ich ehrlich bin) auch gar nicht wirklich will, da das Liebenswerte sich einfach nicht in Buchstaben pressen lässt. Die beste Möglichkeit, etwas über diese Stadt, die Kultur und die Menschen zu erfahren, ist also auch die einfachste: hinfahren und selbst schauen.


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