… genießt man an trüben Wintertagen, als Tonikum gegen miese Stimmung, in Phasen akuten Welthasses, im Auto auf der einsamen Landstraße, in übervollen Einkaufspassagen, zusammen mit guten Freunden oder in der Straßenbahn, wenn man nur noch den Stehplatz inmitten einer Gruppe verschwitzter Spowi-Studenten erhaschen konnte. Sie helfen, einen Rest an Selbstbeherrschung zu bewahren und ein friedlicher Mensch zu bleiben. Oder sie lösen einfach nur schöne Erinnerungen an längst Vergangenes aus. Jeder kennt seinen Song, jeder braucht ihn gelegentlich ganz laut aus den Boxen. Drei UNIQUE-Redakteure sind tief in sich gegangen und stellen euch hier, natürlich rein subjektiv, die Songs vor, in denen sich ihre Seele spiegelt.
Khoiba – Pathetic
„So stay alone with all your fears (…) I’m so alone on empty scene.“
von Luth
Es ist einer dieser gesprächsschwangeren Abende bei meinem besten Kumpel Vince. Wir trinken dekadent teuren Rotwein und protzen gegenseitig mit unseren musikalischen Neuerwerbungen. Uns ist klar wie das wieder enden wird, wie es enden soll. Bald ist der ganze Fußboden übersät mit Plattencovern, CD-Booklets, leeren Chipstüten, Resten von Drogendelikten und Rotweinflecken, die Stimmung balanciert auf dem schmalen Grat zwischen berauschter Euphorie und präeruptiver Melanchonie. Unvermittelt schnellt mein Sofasozius aus der Horizontalen und lallt etwas von einer „saugeilen Prager Frickelband“. Mit bedeutungsvoller Miene legt er einen neuen Silberling in den Player: Khoiba, Album Nice Traps, Track 12, Pathetic. Diese Wucht und erdrückende Intensivität voll tragischen Schmerzes, welch abgrundtiefe Fragilität! In björkesker Manier sägt sich die elektronisch verzerrte Stimme Ema Bracovás in mein Hirn und hinterlässt unheilbare Wunden. Von mächtigen Basswellen wie betäubt tanzen wir mit am Abgrund, am Ende fließen ein paar Tränen des Glücks. Wahrscheinlich ohne es beabsichtigt zu haben, schenkt mir Vince an diesem Abend den perfekten Song.
Archive – Fuck U (Live @ Zenith Paris)
„When you look at yourself do you see what I see? If you do why the fuck are you looking at me?“
von Nicole Bergner
Ein Lied, dass mich regelmäßig von aufkommendem Menschenhass therapiert. Wenn ich es höre, besteht die Welt für wenigstens fünf Minuten nicht nur aus … Passanten, die es aus Ignoranz nicht schaffen, das unbeirrbare Lächeln des Akkordeonspielers in der Jenaer Fußgängerzone wenigstens einmal zu erwidern und im Vorbeigehen verschämt das Straßenpflaster anstarren … Greenpeace-Aktivisten, die meinen, man könne sein Leben erst dann wirklich „schätzen“, wenn man in Afrika Entwicklungshilfe geleistet habe – um sogleich von ihren fünf „supergünstigen“ Billigfliegertrips nach Lissabon schwärmen … Autofahrern, die nach einem Unfall wutentbrannt aus ihrer Schwanzverlängerung springen und mich, verrenkt über dem Fahrrad liegend, mit Vorwürfen und StVO-Regeln traktieren, anstatt zu fragen, wie es mir geht … Menschen, die sich von Rolltreppen, EC-Automaten, Drehtüren oder roten Ampeln widerstandslos Lebenszeit stehlen lassen, mir beim Verlassen des Busses aber ungeduldig ihre Ellenbogen in den Rücken drücken – als ob sie dadurch irgendetwas zurückgewinnen könnten.
John Frusciante – My Smile is a Rifle
„My smile is a rifle and I point it at you. My smile is a rifle, you’ll know when you bring me in from the rain.“
von Heike
Dieses Jahrtausendlied entstand zu der Zeit, als John Frusciante, verlassen von seiner Band, versackte und nur Versager als Freunde hatte. Das kann man hören und auch den nahenden Tod durch Heroin oder Karies, der sich im larmoyanten Gejaule des Lieds ausdrückt. Der herzerwärmend stümperhafte Gesang über viereinhalb Oktaven ist im schlimmsten Falle Katzenmusik, im besten aber von schamanischer Kraft. My Smile is a Rifle ist ein nonchalantes De Profundis mit elektrisch verstärkter Gitarre und dreckigen Fingernägeln, der Psalm eines scheiternden Rockstars. Es besingt den flüchtigen Moment zwischen tiefster Verzweiflung und totaler Selbstaufgabe, jene poetischen drei Minuten orgasmischen Schmerzes vor dem umfassenden Scheißegal, die sich nicht anders als durch grenzgängerische Dyslalie und Rückkopplung ausdrücken lassen. Aus diesem Lied hört man die ungeschönte, aber dennoch hochästhetische Materialisierung der Seele im Klang. Es ist der ursprünglichste, ehrlichste und unmittelbarste Blues der Galaxie, den musikalisch festzuhalten bisher ausschließlich dem sensiblen Genie J.F. gelungen ist.
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