Warum tauscht jemand seine Jenaer Wohnung gegen ein renovierungsbedürftiges Gehöft? Das Ziel: ökologisch leben und wirtschaften. Das Mittel: Diestels Sonnengarten, eine Solidarische Landwirtschaft im Saale-Holzland-Kreis.
von Tina
Der Bauwagen, vor dem wir stehen, sieht mit seiner rotlasierten Holzverkleidung und seinen kleinen weißen Fenstern fast wie ein skandinavisches Holzhaus aus. Lutz, seine Freundin Nicole und ihre beiden Kinder wollen in ein paar Monaten zwei Bauwagen auf dem renovierungsbedürftigen Gehöft beziehen. Wir sind hier, um zu verstehen, was Lutz dazu bewegt, seine Jenaer Wohnung gegen Diestels Sonnengarten mit Blick auf die Südseite der Leuchtenburg in Schmölln, vier Kilometer von Kahla gelegen, einzutauschen.
Der Sonnengarten ist eine von den gut hundert Solidarischen Landwirtschaften (SoLaWi) in Deutschland, die im Regelfall biologisch-dynamisch wirtschaften. Die Leitlinien der biologisch-dynamischen Landwirtschaft gehen auf Rudolf Steiner, den Begründer der Anthroposophie zurück. Das Ideal des später weiterentwickelten Konzeptes ist ein Kreislauf, in dem Pflanzen, Tiere und Menschen einen harmonischen Gesamtorganismus bilden, sodass umweltverträgliche und gesunde Lebensmittel produziert werden. Heute ist ein Großteil der biologisch-dynamischen Betriebe in Deutschlands drittgrößtem Bioanbauverband Demeter organisiert. Dabei verpflichtet sich eine Gruppe privater Abnehmer gegenüber einem landwirtschaftlichen Betrieb, dessen Ernte ein Jahr lang mit einem festen monatlichen Betrag zu finanzieren, sodass die Betriebskosten und die Lebenshaltung der Gärtner gedeckt werden. Dafür erhalten die Abnehmer ihren Anteil an der Ernte.
Als wir auf den Hof ankommen, winkt uns der Gründer Sebastian euphorisch zu. Barfuß, mit breitem Strohhut auf dem Kopf, steht er vor der Eingangstür und streckt uns freundlich seine erdige Hand zur Begrüßung entgegen.Welche Herausforderungen der Aufbau einer SoLaWi mit sich bringt, erklärt uns der 38-Jährige, der zusammen mit seiner Freundin Liona den Sonnengarten bewirtschaftet. Nach der gemeinsamen Gärtnerausbildung auf einem Demeter-Betrieb planten Sebastian und ein Freund aus der Ausbildungszeit eine Reiseroute durch den Reinstädter Grund, von Kahla bis Lengefeld, um einen eigenen Hof zu finden – „nah an den Städten, um ein Potenzial an Abnehmern in der Umgebung zu haben“, erklärt Sebastian. Schließlich stießen sie auf den Hof in Schmölln. Nach langen Verhandlungen über den Kaufpreis und dank Unterstützung ihrer Eltern konnten die beiden den Hof samt 14 Hektar Landflächen erwerben. Für selbstverständlich hält Sebastian die Hilfe seiner Eltern nicht: „Es war absolut wichtig, meine Familie hinter dem Vorhaben zu haben. Meine Mutter und meine Oma waren froh, dass ich überhaupt etwas gemacht habe. Vor der Ausbildung habe ich nicht viel getan, mal kurz studiert und gemerkt: Das ist nicht meine Form zu lernen.“ Dann habe er ziemlich viel auf Partys in Leipzig rumgehangen, hauptsächlich Hunde gesittet, ein bisschen auf der faulen Haut gesessen. „Als ich 28 war, habe ich überlegt: Was willst du mit der restlichen Inkarnation eigentlich anfangen?“ Da kam dann der familiäre Hintergrund ins Spiel: „In unserer Familie wurde schon immer in der Erde gewühlt.“
Wir gehen die Treppe hinauf in unsere Gästezimmer, lassen das von Sebastian Erzählte sacken. Im ersten Stock des Bauernhauses gibt es viele Räume, die meisten noch gar nicht eingerichtet oder voller Gerümpel. Nur unsere Gästezimmer sind schon wohnlich ausgestattet, mit Betten, Bücherregal und Schreibtisch. Auf der Etage gibt es auch ein eingerichtetes Bad – allerdings fehlt noch der Wasseranschluss. Nach der kurzen Pause gehen wir herunter; Sebastian bringt uns zu Ellen, der ersten Abnehmerin in Schmölln.
„Die Idee unterstützen“
Wir sitzen der liebenswürdigen Frau, die eine große Begeisterung ausstrahlt, auf ihrer Terrasse gegenüber. Seit Ellen die Lebensmittel von Liona und Sebastian bezieht, konnte sie ihren kulinarischen Horizont erweitern: „Was wir früher Unkraut nannten, das kommt heute in den Smoothie.“ Sie lernte Pastinaken, Bischofsmütze und Yamswurzel zuzubereiten. Im Gegensatz zu der vielfältigen Auswahl im Sommer müssen sich die Abnehmer in der kälteren Jahreszeit häufig mit eingelagertem Gemüse begnügen. „Im Winter würde man rein rechnerisch im Supermarkt mehr für sein Geld bekommen,“ so Ellen, „aber das ist die Solidargemeinschaft. Wir zahlen immer die gleiche Summe, weil wir die Idee unterstützen.“
Am nächsten Morgen gegen sieben sollen wir uns mit Sebastian zur Ernte treffen. Es hat die ganze Nacht geregnet und es ist relativ kühl. Wir raffen uns auf, nehmen Diktiergerät und Fotoapparat mit, laufen über den Schmöllner Dorfanger zu den Anbauflächen und suchen dort den Gärtner. Sebastian steht schon mit Gummistiefeln und Regenjacke bekleidet auf dem matschigen Feld. Er erklärt uns geduldig, wie der Mangold von unten zu packen und anschließend abzureißen ist. Wir tragen Turnschuhe und spüren, wie unsere Füße langsam nass werden.
Während der Ernte erzählt uns Sebastian über seine Abnehmer. Ellen als direkte Abnehmerin im Dorf ist eine Ausnahme. Die Abnehmergruppen in Weimar, Jena und Erfurt sind ganz unterschiedlich organisiert. „Die Erfurter Abnehmer sind phänomenal,“ sagt Sebastian, dabei huscht ein Lächeln über sein sonnengegerbtes Gesicht, „seit sechs Jahren haben sie wechselnde Abholorte.“ Momentan kann das Gemüse im Sommer im Interkulturellen Garten Erfurt und im Winter in einem Hausflur abgeholt werden. Im Hausflur ist die Abholung nur von fünf bis sechs möglich, daher kommen die Abnehmer miteinander in Kontakt: Sie telefonieren miteinander und der eine bringt dem anderen seine Portion mit. In Weimar gibt es zwei Abholorte, einer davon befindet sich in einem hübsch eingerichteten, mit Regalen ausgestatteten Keller in einem Privathaus. In den Weimarer Kellern sind unabhängig von der SoLaWi einige Initiativen entstanden: Food-Sharing, Kleidertauschecke, eine Einkaufsgemeinschaft für Lebensmittel. „Es gibt da auch jemanden, der tierisch gerne Dinkelcroissants bäckt, die in den Keller legt, ein Spendenglas daneben hinstellt und jeder kann nehmen und geben, so viel er will,“ erzählt Sebastian anerkennend. In Jena mieten die beiden Abnehmergruppen einen Kellerraum im Saalbahnhof.
Höhen und Tiefen
Wir unterbrechen Sebastian und erinnern ihn daran, dass er noch zu den Tomaten muss. Also geht er noch schnell zu den Folientunneln und sammelt dort behände die Hofsorte Ruth mit den kleinen Spitzen ein. Die Tomaten sind normalerweise größer. Nach der Pflanzung gab es nicht genug Wasser, um die Tomaten zu gießen. Bei der Wasserversorgung sind die Hofbewohner auf eine Zisterne und einen Brunnen angewiesen – wenn es lange nicht regnet, dann gibt es ein Wasserversorgungsproblem hier oben auf dem Feld. Es muss zur Bewässerung der Tomaten ein 1.000-Liter-Tank gefüllt und mit dem Traktor hochgefahren werden. Das nimmt fast einen ganzen Arbeitstag in Anspruch, schiebt Sebastian erklärend ein, bevor er mit der Organisation der Abnehmerkreise fortfährt: „In Erfurt wuchs die Zahl der Abnehmer zunächst rasant, jede Woche kamen neue Erfurter dazu, dann brach die Abnehmerzahl plötzlich wieder ein. Damals wurde die Abnehmerschaft falsch angepriesen: Einige der Abnehmer haben bei Interessierten, die dann selbst zu Abnehmern wurden, falsche Erwartungen geweckt.“ SoLaWi bedeute nicht, dass sich jeder so viel nehmen kann, wie er will. „Statt zu fragen, was man selbst will, muss man fragen: Was lasse ich den anderen da?“
Mittlerweile sind wir bei der Petersilie angekommen, die, umgeben von viel Beikraut, auf dem Feld steht. Wir schneiden sie und legen sie in die grüne Gemüsekiste. Die Abnehmer lernen nicht nur die eigenen Bedürfnisse und die der anderen in ein ausgewogenes Verhältnis zu setzen, sondern auch Mengen abzuschätzen. „Es gibt keine Abholstation, die eine Waage hat“, sagt Sebastian stolz.
Wir gehen zurück, vorbei an den verschiedenen kleinen Sträuchern, die das Buschwerk bilden, das den Sonnengarten von den Anbauflächen des kommerziellen Maisbauern trennt. Sehen dabei Ringelblumen und violettes Büschelschön blühen, die als Bienenweide fungieren. Sebastian sammelt auf dem Weg flink weißen Patisson – auf den intensiven Geschmack des Kürbisses ist er besonders stolz. Schließlich kehren wir auf den Hof zurück.
Die erwartete Solidarität ist nicht nur darauf beschränkt, die Lebensmittel verbindlich abzuholen und den Gemüseanbau vorzufinanzieren, sondern fordert von den Abnehmern auch, sich an der anfallenden Arbeit zu beteiligen. Manche SoLaWi-Betriebe vereinbaren vertraglich, wie viele Stunden ihre Abnehmer selbst auf dem Feld stehen müssen, andernfalls verlangen einige einen finanziellen Ausgleich für die nicht erbrachte Arbeitsleistung. Mehr helfende Hände könnte er schon gebrauchen, gibt Sebastian, der momentan ein Zehntel der gesamten Nutzfläche alleine bewirtschaftet, am Abend zu – aber er sei nicht der Typ, der die Leute auf so eine Art zur Mithilfe bewegen will. Er weiß, dass Menschen in der Stadt ihren eigenen Rhythmus haben. Die Erfurter wohnen weit weg, das studentische Leben in Jena erfordert auch einige Zeit. Wir wundern uns, dass Studenten bereit sind, sich für ein Jahr an den Sonnengarten zu binden. Sebastian kennt die Problematik. Ungebundenheit ist für ihn ein Phänomen des Zeitgeistes: „Die Leute wollen frei sein, bereit, um jederzeit eine bessere Gelegenheit ergreifen zu können.“ – ein Zustand, in dem man sich schlecht mit einer SoLaWi verbinden kann. Sebastian spürt aber auch die Gegenbewegung, den Wunsch der Menschen nach mehr Verbindlichkeit.
Global denken, lokal handeln
Eine ganz junge Bewegung, beschränkt auf deutsche Keller, ist die SoLaWi allerdings nicht: Schon Mitte der 80er Jahre wurde in den USA so genannte CSA (community-supplied agriculture) betrieben. Als Vorreiter der amerikanischen Bewegung gilt der biologisch-dynamische Landwirt Trauger Groh. Unabhängig davon entstanden in Japan schon Mitte der 60er die sogenannten „Teikeis“ (sinngemäß: „Essen mit dem Gesicht des Bauern darauf“), gegründet von Frauen aus Sorge um die Qualität der Milch. Heute beziehen geschätzt ein Viertel aller japanischen Haushalte Lebensmittel von einer Teikei.
Am nächsten Tag finden wir Zeit, uns mit der hochschwangeren Liona zu unterhalten. Wir sitzen mit der 28-Jährigen in der Essecke des großen Raumes, wo schon die Anfänge der zukünftigen Küche stehen. Dort spielt Marina, die kleine Tochter der beiden, mit Bauklötzen. Liona lernte Sebastian in ihrer Ausbildungszeit kennen. 2014 ist sie auf den Hof gezogen. Die Umstellung war groß, sagt sie. Vorher arbeitete die gelernte Gärtnerin in einem straff organisierten Betrieb, während hier die Gemüsebauern auf sich gestellt sind, nicht im Tagesbetrieb mitlaufen können, sondern sich ihre eigenen Strukturen schaffen müssen.
„Belastend ist es definitiv, wenn man jeden Tag diesen so kaputten Hof sieht. Es gibt hier einen Berg an Dingen, die noch getan werden müssen. Wir haben noch kein Badezimmer und keine Dusche. Das ist anstrengend, aber wir können dafür alles nach unseren Bedürfnissen gestalten. Das Leben hier ist rustikal, ich glaube, das kann nicht jeder aushalten. Luxuscamping sozusagen“, sagt sie mit einem Lächeln. Zu Beginn war es für Liona nicht einfach, sich auf den Hof einzufügen. Sebastian und sein Hof-Mitgründer waren schon ein eingespieltes Team, erzählt Liona, und sie kam dazu. „Da hat es ganz schön geknallt“, erklärt sie – letztlich blieb Liona. Trotz der zwischenmenschlichen Herausforderungen freut sich Liona schon auf Lutz, Nicole und deren Sohn und Tochter. Das Paar war schon auf den Hof bei einer Fahrradtour aufmerksam geworden. Damals stand er noch leer, alles war überwuchert. Die beiden haderten mit sich, entschlossen sich letztendlich gegen den Kauf des Gehöfts. Über eine Bekannte kamen sie schließlich zum Hof zurück.
Heute finden wir den hochgewachsenen und etwas hager aussehenden 37-jährigen Lutz am Bauwagen. Er ist gerade dabei, eine Schultüte für seinen Sohn zu gestalten, unterbricht aber kurz für uns und erzählt wie es ihn nach Schmölln verschlagen hat: „Schon lange wollten Nicole und ich aus der Stadt raus“, erklärt er ohne Umschweife. Jahrelang habe er in einem klassischen studentischen Umfeld gesteckt, eine Doktorarbeit angefangen, verschiedene Jobs gemacht: Aushilfe in einem Waldkindergarten, Bauarbeiter, Lektor… Das akademische Leben hat er als Sackgasse empfunden. „Das Leben in Schmölln ist kein klassischer Hippie-Aussteiger-Traum im Sinne von ausgehängten Klotüren, es geht vielmehr ums Wesentliche: Wohnen und Essen.“
Lutz fährt uns mit seinem Auto zum Zug nach Kahla. Ich steige am Bahnhof in Göschwitz aus und laufe zu meiner Wohnung. Meine vom Feld schlammigen Schuhe stelle ich auf den Balkon, schaue noch kurz auf die Leuchtenburg, die eben vom Sonnengarten aus noch so nah schien und hier nur noch anhand ihrer Konturen zu erahnen ist – und freue mich schon auf eine warme Dusche.
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