von Martin Thormann
Zu San Francisco gehören Vietnamveteranen im Tenderloin-Viertel, die Müllcontainer nach Essbarem durchwühlen, für die Erntesaison des Central Valley eingeschmuggelte Mexikaner im Mission District, allerlei Ramsch verkaufende Asiaten in Chinatown und Tausende Akademiker aus Europa und dem Rest der Welt. Genau das macht die Stadt gleichzeitig so attraktiv und so widersprüchlich. Weitere Beispiele gefällig?
Es ist Hochsommer in San Francisco und ich suche krampfhaft einen Winterpullover. Bis auf einen liegen sie alle vollgeschwitzt im Wäschekorb. Wenig später rase ich mit dem Rennrad – die Finger in warme Handschuhe gepackt – von meiner Wohnung im Sunset District durch den dicken, alles verschlingenden Nebel. Der staut sich, verlässlich wie immer, bis hoch zum Mount Sutro Tower auf den Twin Peaks-Hügeln.
Mathematisch präziser Küstennebel
Auf der anderen Seite des bei Filmfans weltweit bekannten Höhenzuges erwartet mich neben Sonnenschein auch meine Arbeitsstelle, eine kleine Softwarefirma, in Betrieb gehalten von sechs Deutschen und einem Österreicher. Dieser Job und meine Freundin, die ich bei einer Weinverkostung im nahen Napa Valley kennen gelernt hatte, sind nur zwei von vielen Gründen, warum aus ursprünglich einem Jahr in den USA letztendlich fünf geworden sind.
So gegensätzlich wie die beiden Stadthälften, die der Küstennebel mit mathematischer Präzision in unangenehm-kühl und kalifornisch-warm teilt, sind auch die Menschen, die in „Frisco“ leben. Man findet hier jeden Typ von Amerikanern, viele gängige Klischees scheinen dauerhaft außer Kraft gesetzt: Das geht los beim schwulen, iPhone-süchtigen Yuppie im regenbogenbeflaggten Castro District, weiter über Meth schniefende, jugendliche Runaways, die bei McDonalds an der Ecke Haight und Stanyan Street abhängen und von der Polizei gegängelt werden, bis hin zu fundamentalistischen Jesus-Eiferern, die Touristen, welche sich in der Powell Street zum obligatorischen Cable-Car-Fahren angestellt haben, mit unerschütterlicher Beharrlichkeit die Botschaft der Bibel näher zu bringen versuchen.
Pfarrer in Frauenkleidern
Zu San Francisco gehören auch Vietnamveteranen im Tenderloin-Viertel, die Müllcontainer nach Essbarem durchwühlen, für die Erntesaison des Central Valley eingeschmuggelte Mexikaner im Mission District, allerlei Ramsch verkaufende Asiaten in Chinatown und Tausende Akademiker aus Europa und dem Rest der Welt. Genau das macht die Stadt gleichzeitig so attraktiv und so widersprüchlich. Weitere Beispiele gefällig? Ein russischer Professor, der in seinem früheren Leben fürs sowjetische Raumfahrtprogramm forschte, kutschierte mich eines Tages in seinem Taxi zum Flughafen.
Kiffen mit Chipkarte und Rezept
San Francisco ist für viele Amerikaner ein Sündenpfuhl, insbesondere natürlich für alle tief im Bible Belt des Mittleren Westen lebende. Gras bekommt man ganz legal auf Rezept und gegen Vorlage einer „Medical Marijuana ID Card“ in den zahlreichen Dispensaries ausgehändigt. Während des alljährlichen „Folsom Street Festivals“ haben Schwule, Transvestiten, Cross-Dresser, Transsexuelle und Lesben nicht nur jede Menge Spaß, sondern oft auch auf offener Strasse Sex. Beim „Bay to Breakers“ laufen Tausende San Franciscans – viele von ihnen splitternackt – vom Ferry Building durch den Golden Gate Park zur Windmühle am Ocean Beach. Ein republikanischer Bürgermeister wird es jedenfalls nie in die City Hall schaffen …
Nichtsdestotrotz kommen sie alle, auch die Bibeltreuen, und sei es nur, um vor dem Rathaus erst lauthals gegen die Homo-Ehe zu protestieren und dann für die Familie zu Hause doch ein paar Fotos von der Golden Gate Bridge zu schießen. Viele der alt gewordenen Hippies und Revoluzzer sagen, San Francisco sei lange nicht mehr so politisch wie während der wilden Flower-Power-Zeiten im Haight-Ashbury-District der 1960er- oder im Castro District der 1970er-Jahre. Damals wurden die Politiker Harvey Milk und George Moscone aufgrund ihrer sexuellen Neigungen bzw. politischen Einstellungen noch gezielt von einem katholischen Ir(r)en abgeknallt. Stattdessen ziehen nun mehr und mehr zahlungskräftige, politisch jedoch kaum aktive Google-Jünger aus dem weiter südlich gelegenen Silicon Valley Silicon Valley in die Stadt, was viele der alten Kämpfer als geistige Verflachung zu sehen scheinen.
Altgewordene Hippies und Revoluzzer
Doch die Politik der Straße erlebte ich bisher in keiner anderen Metropole so intensiv wie in San Francisco. Kaum ein Wochenende vergeht ohne irgendwelche Demonstrationen, obwohl diese selten die Ausmaße erreichen, wie man das von französischen Streiks kennt. Eine Ausnahme ist sicher die Critical Mass, die immer am letzten Monatsfreitag stattfindet. Tausende Radfahrer fahren dann in einer bis zu fünf Kilometer langen Kolonne durch die Stadt – singend, demonstrierend, pfeifend, ohne festgelegte Route und alle Ampeln ignorierend. Für wenigstens einen Tag zeigen sie den Autofahrern, wer tatsächlich die Straße beherrscht. Nebenbei lernt man dabei auch leicht nette Leute kennen.
Manchmal glaubte ich, es ist schlicht unmöglich, in San Francisco einen Amerikaner kennen zu lernen. Nach fünf Jahren zählt nur eine einzige Vollblutamerikanerin zu meinem Freundeskreis. Alle anderen Freunde sind entweder selbst Einwanderer oder nur teilweise „amerikanisch“. Das liegt sicher daran, dass es so etwas wie den Amerikaner gar nicht gibt. Tatsächlich kommt San Francisco der amerikanischen Selbstbezeichnung als „Melting Pot“ viel näher als Metropolen wie New York, Boston, Washington oder Los Angeles. Klar, auch im Schatten der Twin Peaks existieren mexikanische, chinesische und schwarze Enklaven. Abgesehen von den Städten des US-amerikanischen Südens und Südostens, die von illegalen mexikanischen Einwanderern regelrecht überflutet werden, hat wohl kaum eine andere US-Großstadt einen höheren Ausländeranteil und so viele gemischt-nationale Familien.
Warten auf the „Big One“
Auch viele meiner Freunde leben mittlerweile in internationalen Beziehungen und Ehen. Das ist die sonnige Seite San Franciscos. Bedauernswert ist hingegen, dass immer mehr von ihnen aus „the city“ wegziehen. Denn San Francisco ist teuer – sehr teuer! Vor allem junge Leute und Familien können sich die horrenden Mieten nicht leisten, sie ziehen in den suburbanen Mainstream von Oakland, der North oder der South Bay. Die durchschnittlich zwei Stunden Pendelverkehr zum Arbeitsplatz nehmen sie dafür wohlwissend in Kauf.
Andere ziehen um, um eine Wohnung auf sicherem Boden zu finden. Damit sind allerdings nicht die von Kriminalität gebeutelten Straßen von Hunters Point im Südosten der Stadt gemeint. Wenn das nächste „Big One“, sprich Erdbeben, kommt, schwingt Felsgestein nämlich weit weniger mit als aufgeschüttetes Land. Die Mietpreise in San Francisco richten sich daher daher nicht nur nach der Wohnlage, sondern auch nach der Wohnunterlage. Dass das nächste Beben kommt, ist so sicher wie Global Warming. Nur wann es kommt, das weiß niemand. Am liebsten möchte es auch keiner wissen. Statistisch gesehen wurde die Stadt bisher alle hundert Jahre von einem schweren Erdbeben heimgesucht, zuletzt im Jahre 1906. Wir schreiben das Jahr 2009. Go figure!
Schicksalsergebene Ignoranten
Als Bewohner San Franciscos muss man also entweder schicksalsergeben und/oder ignorant sein. Spürbare Beben ereignen sich zwar nur ca. alle sechs Monate, trotzdem werden die kostenlosen Erdbebentrainings der Feuerwehr von lediglich fünf Prozent der Stadtbevölkerung wahrgenommen.
Für den Notfall lernte ich dort sehr elementare Dinge, etwa dass man in einem Plastikbeutel unter dem Bett eine Taschenlampe, Schuhe und Klamotten aufbewahren, dass man Schränke und Spiegel an der Wand festschrauben und dass man sein Bett nicht neben ein Fenster stellen sollte. Da San Francisco auf drei Seiten von Wasser (davon nur zwei mit Brücken) umgeben ist, sagt man, dass man nach einem katastrophalen Beben etwa drei Tage allein zurechtkommen müsste. Wissenschaftler sprechen vom sogen. Island Phenomenon.
Als neulich mal wieder die Wände wackelten, fragte mich ein Arbeitskollege: „Wollten wir nicht einen Kaffee trinken gehen?“ Das trifft es wohl …
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