Russland – das freieste Land der Welt

(Foto: © Roman Gherman)
(Foto: © Roman Gherman)

Viele Deutsche verbinden Russland mit Korruption und Verboten. Nach  Meinung vieler Einheimischer ist es jedoch ein Ort der Freiheit.

von Roman Gherman

Moskau ist eine sehr schnelllebige Stadt – chaotisch, spannend, aber auch brutal und ignorant zugleich. Zur Rush Hour fahren die U-Bahnen im 90-Sekunden-Takt. Doch die Unmengen von Menschen weg zu transportieren, ist kaum zu schaffen – manchmal sind die Züge so voll, dass die Türen kaum schließen können. Russland ist ein Land der Widersprüche. Ich habe russische Wurzeln; ich verstehe die Sprache, kenne die Kultur und mir fällt es nicht schwer, mich mit den Leuten zu unterhalten. Ich fragte mich schon immer, ob ich dieses Land wirklich verstehe, aber seit ich in Moskau lebe, lässt mir diese Frage keine Ruhe mehr.
Was für den Russen gut ist, ist für den Deutschen der Tod, lautet ein russisches Sprichwort. Der Einfluss der deutschen Sprache ist beeindruckend. Vor Kurzem ist mir klar geworden, dass deutsche Worte, die ihren Eingang in die russische Sprache fanden, alle etwas gemeinhaben: Schlagbaum, Buchhalter, Strafe, Sanktion, Büro, Führer… Man könnte meinen, Deutschland habe in Russland ein sehr negatives Image, doch ganz im Gegenteil: Deutschland wird von den Russen bewundert.

Zwischen Europa und Asien
Meine russische Bekannte sagt, Russland liege zwischen Europa und Asien, es ist weder das eine noch das andere. Überhaupt definieren die Leute viele Begriffe anders als wir. Nehmen wir den Begriff Freiheit: Während er in Deutschland mit Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Pressefreiheit in Verbindung gebracht wird, wird er in Russland primär mit individueller Freiheit und Privatsphäre verbunden. Vor Kurzem gab es in der Russischen Föderation eine große Protestwelle gegen die Privatisierung von Seen und einen neuen Gesetzesentwurf, eine Angelgebühr einzuführen. In manchen Städten sind bis zu 6.000 Menschen auf die Straße gegangen. Als Zeitungen und Fernsehsender unter Staatskontrolle gebracht wurden, protestierten dagegen nur Wenige in Moskau und in der Peripherie interessierte sich kaum jemand dafür.

Die Freiheit zu sägen
Ich wurde zu einer Geburtstagsfeier eingeladen. Wir feierten mitten im Wald und machten ein großes Lagerfeuer. In Deutschland würde man das Feuerholz  im Baumarkt beschaffen. In Russland nimmt man eine Kettensäge und bedient sich an den trockenen Bäumen. Das ist auch Freiheit. Dmitrij, einer der Geburtstagsgäste, sagt, er wolle zwar nicht, dass das Jeder mache. Aber er möchte trotzdem nicht darauf verzichten. Als ich mich mit Alexander, einem jungen Wissenschaftler vom Landwirtschaftsinstitut über das Thema Freiheit unterhalte, meint er, alles habe seine Vor- und Nachteile. Er wäre viel unterwegs, aber ihm sei klar, dass Rusland „das freiste Land auf Erden“ sei. In Deutschland, meint er, sei alles so schön, aber auch alles geregelt – jeder Atemzug, jeder Schritt. Das habe sicherlich seine Vorteile, aber es sei kein Land, in dem er leben könnte. Dann bringt er ein weiteres, recht skurriles Beispiel. „Stell dir vor, du gehst ins Gebäude des Landwirtschafts-Instituts. Sobald du hinter dem Drehkreuz bist, kannst du machen, was du willst. Wenn du in den Aufzug pinkelst, sagt dir keiner was, weil alle denken, dass du der Sohn des Rektors bist.“ Alexander lächelt kurz und meint dann, er sei zwar damit nicht ganz einverstanden, aber auch das sei ein Teil der „russischen Freiheit“.

Die Uhren ticken anders
Vor Kurzem wurde die riesige Uhr Kuranti auf dem Kremlturm zum letzten Mal umgestellt. Per Ukaz (Beschluss) schaffte Medwedew die Umstellung auf Winter- und Sommerzeit ab. Eine Frau mittleren Alters, die ich im Museum kennen lernte, zeigte sich sehr erfreut über diese Entscheidung. Die Zeit nicht mehr umstellen zu müssen, ist für sie auch Freiheit. Als wir uns über Deutschland unterhalten, schlägt sie irgendwie den Bogen zur Effektivität des zentralistischen russischen Systems. In Deutschland, meint sie, würde man 20 Jahre für die Entscheidung brauchen, die Zeitumstellung abzuschaffen, und in Russland gäbe es eben einen Ukaz.
Es herrscht ein gewisses Klima des „Nicht-Einmischens“. Solange sich die Politik nicht in die privaten Angelegenheiten der Menschen einmischt und einen gewissen Wirtschaftsstandard gewährleistet, mischen sich die Bürger auch nicht in die Politik ein. Ob Putin oder Medwedew an der Macht ist, spielt dabei keine große Rolle. Die da oben wissen das schon.

Roman Gherman (25) hat Südosteuropastudien und Politikwissenschaft an der FSU Jena studiert. Der Artikel entstand während seines Praktikums bei der Deutschen Botschaft in Moskau.

Kommentare

Eine Antwort zu „Russland – das freieste Land der Welt“

  1. Avatar von LuGr

    Ob Putin oder Medwedew an der Macht ist, spielt dabei keine große Rolle. Die da oben wissen das schon.

    Oder beide als Angehörige derselben Partei in immer wechselnden Positionen ;)…

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert