Der australische Linguist Nicholas Evans schreibt in seinem Buch Wenn Sprachen sterben und was wir mit ihnen verlieren nicht in erster Linie vom Tod der Sprachen, sondern erzählt von ihrem Leben und ihrer Lebendigkeit.
von David
Etwa die Hälfte aller Sprachen auf der Welt werden bis zum Jahr 2100 ausgestorben sein, prognostiziert der australische Linguist Nicholas Evans. Der Fachmann für bedrohte Sprachen, der Grammatik- und Wörterbücher mehrerer Aborigines-Sprachen zusammengestellt hat, spricht gar von einer „Massenvernichtung des menschlichen Geistes“. Warum er gegen Ende seines Buches Wenn Sprachen sterben und was wir mit ihnen verlieren zu solch apokalyptischen Worten greift, wird nach der Lektüre seiner bis dahin dargelegten Ausführungen nur allzu verständlich. Evans lädt zu einer linguistischen Entdeckungsreise durch Raum, Zeit und verschiedene Denksysteme ein. Wenn Sprachen sterben… ist mehr explorativ als nach einem strikten, analytischen roten Faden aufgebaut und versteht sich dabei als permanente Einladung zur sprachphilosophischen Reflektion.
Durch vier Sprachfamilien in 200 Kilometern
Zunächst ist es das Potential der Sprachvielfalt, die gerade für mitteleuropäische Vorstellungen fast schwindelerregend ist: Wer im nördlichen Bundesterritorium Australiens in der Region Arnhemland eine Strecke von etwa 200 Kilometern durchquert, kann dabei auf neun verschiedene Aborigines-Clans stoßen, die sieben verschiedene Sprachen nutzen – wobei diese sieben Sprachen vier verschiedenen Sprachfamilien angehören. Sie unterscheiden sich dabei voneinander stärker als etwa das germanische Deutsche vom slawischen Russischen. Evans Ausführungen zu dieser Sprachenvielfalt auf kleinstem Gebiet sind faszinierend. Die Sprache ist im Arnhemland aus religiösen Gründen territoriumsgebunden, weil lokale Geister in der lokalen Sprache angerufen werden müssen. Wer das Territorium eines anderen Clans betritt, muss dessen Sprache sprechen. Durch diesen Austausch, der auch dadurch gefördert wird, dass Ehen nur zwischen Angehörigen verschiedener Clans toleriert werden, entsteht auf kleinstem Raum eine extreme Praxis von Mehrsprachigkeit: Jedes Kind hat eine Mutter- und eine Vatersprache und lernt beim Heranwachsen mindestens noch vier oder fünf weitere Idiome. Reisende wechseln auf ihrem Weg die Sprache. Legenden werden mehrsprachig erzählt – nach Handlungsort abhängig. Diese Verbindung aus extremer Mehrsprachigkeit mit lokaler Verbundenheit ist nicht spezifisch für das Arnhemland, sondern existiert etwa auch im indischen Bundesstaat Nagaland und im Mandara-Gebirge in Kamerun und widerlegt die Vorstellung, dass Sprachenvielfalt durch geographisch-kulturelle Abschottung entstünde.
46.656 = ‚wi‘
„Kolik jazyků znáš, tolikrát jsi člověkem“ sagt ein tschechisches Sprichwort: So viele Sprachen du kennst, so oft Mensch bist du. Mit jeder neuen Sprache lernt man eine andere Kultur kennen. In vielen anschaulichen Beispielen macht Evans auch deutlich, dass Sprache tiefste Bereiche menschlichen Denkens beeinflusst: das Denken über Raum, Zeit und den Platz des Menschen auf der Welt. Die fast ausgestorbene Aborigines-Sprache Kayardild etwa musste der Englisch-Muttersprachler Evans praktisch mit einem Kompass im Kopf lernen. Das Kayardild kennt kein relatives Raumverständnis (links/rechts, oben/unten, vorne/hinten), sondern nur ein absolutes, das sich an den Himmelsrichtungen orientiert – die Verortung von Gegenständen oder Personen oder ihrer Bewegungsrichtung wird mit Deklinationen von Norden, Süden, Westen und Osten vorgenommen. „Wenn man Kayardild sprechen will, muss man also auch lernen, dass die Umgebung wichtiger ist als man selbst“, erläutert Evans das mit dieser Sprache implizit transportierte Weltbild. Sprachen mit absolutem Raumverständnis beschränken sich nicht nur auf Aborigines-Gebiete in Australien, sondern werden auch auf den Salomonen (das Longgu), in Namibia (das Hai//om) und in Mexiko (das Tzeltal) gesprochen.
Auch das Zeitdenken wird von der Sprache beeinflusst. Das Aymara, gesprochen von knapp drei Millionen Menschen in Peru, Bolivien und Chile, hat ein metaphorisches Zeitverständnis, das Mitteleuropäer wohl als „spiegelverkehrt“ bezeichnen würden. Im Aymara liegt die Vergangenheit vorne, die Zukunft hinten: Was vergangen ist, kann betrachtet werden, während das, was noch kommt, unsicher ist. Das spiegelt sich in Gesprächen auch visuell in der Gestik wider: Ältere Aymarasprecher zeigen intuitiv nach vorne, wenn sie von der Vergangenheit sprechen; jüngere Sprecher des Aymara, die zweisprachig mit dem Spanischen aufgewachsen sind, jedoch teilweise nach hinten.
Sprache beeinflusst auch, wie die Menschen in Zahlen denken. In der Papua-Sprache Arammba heißt etwa die Zahl Sechsundvierzigtausendsechshundertsechsundfünfzig einfach nur „wi“ – 46.656 ist die sechste Potenz der Zahl 6. Auch andere Papua-Sprachen haben Senärsysteme, und geben zum Beispiel die Zahl 200 mit der ausformulierten Formel (5 X 6²) + (3 X 6) + 2 an.
(No) sex on the beach
„In allen Sprachen ist es notwendig, dass die Sprecher die soziale Bedeutung dessen, was sie sagen, irgendwie einschätzen und dass sie die neuen Informationen und die Art, wie diese dargestellt werden, in Relation zu sich selbst und ihren Gesprächspartnern setzen“, schreibt Evans in einem Kapitel über die „Facetten der sozialen Kognition“. Dieses „Sich-in-Beziehung-Setzen“ zur sozialen Umwelt findet seinen Niederschlag in der Grammatik vieler Sprachen. So muss im Newari, einer in Nepal gesprochenen Sprache, jede Handlung mittels eines Verbsuffix’ als entweder willentlich oder unwillentlich gekennzeichnet werden; bei vielen Verben sind beide Varianten möglich. Sagt man im Deutschen „Ich traf [zufällig]“ oder „Ich traf [bewusst – gemäß Verabredung], unterscheidet das Newari präziser und konzentrierter zwischen „ji nāpalāta“ und „ji nāpalānā“.
Andere Sprachen, wie das fast ausgestorbene Östliche Pomo in Nordkalifornien, aber auch das Aymara, arbeiten mit Evidentialität, also mit „Beweisoffenlegungssystemen“: Jede Aussage muss darauf auf ihre Quelle überprüft werden; es muss unterschieden werden, ob eine Erkenntnis aus eigener Erfahrung, über direkte oder indirekte Hinweise oder über die Aussage Dritter kommt. Die Aussage „es brannte“ kann und muss hier mit vier verschiedenen Verbsuffixen ausgedrückt werden: 1. Ich habe am eigenen Leib gespürt, wie es brannte, 2. Ich sah, wie es brannte, 3. Hinweise zeigen, dass es gebrannt haben muss, 4. Es hieß, es habe gebrannt.
Mit großer Begeisterung analysiert Evans die Genese, die Grammatik und Wandlungen von Sprachen und erklärt die Methoden des Linguisten, neue Sprachen zu lernen oder bereits tote Sprachen anhand verschiedener Quellen (Aufzeichnungen, verwandte Idiome) zu rekonstruieren – von der Osmanischen Hof-Gebärdensprache über das nordwestkaukasische Ubychische bis hin zu zahlreichen Aborigines-Sprachen, die Evans am besten kennt. Keine einfache Aufgabe: 1.500 Sprachlaute gibt es weltweit, kaum eine Sprache nutzt mehr als 150. So konnte die US-Armee während des Zweiten Weltkriegs im Pazifik Navajo-Ureinwohner als Funker rekrutieren, die codierte Botschaften in Navajo sendeten. Für Japaner war die Sprache schon rein lautlich nicht weniger fremd als für anglophone US-Amerikaner und sie konnten den Code nicht knacken.
Kleinste Abweichungen in der Phon-Aussprache führen zu Missverständnissen: Durch die falsche Aussprache des „r“ und des „t“ wird im Kayardild aus „Wir sehen uns morgen. Ich komme heute Abend nicht mehr zurück an den Strand“ schnell „Ich bade dich morgen. Ich werde heute Abend nicht am Strand Sex haben.“
Der (un-)aufhaltsame Tod der Sprachen
Das im Titel angekündigte Problem des Sprachensterbens durchzieht implizit den ganzen Band, wird aber vor allem in den letzten Kapiteln behandelt. Als größte Ursache für das Sprachensterben sieht Evans die Dominanz monolinguistischer Ansprüche in weiten Teilen der Welt: Mehrsprachigkeit wird als unnatürlich empfunden, und nationalistische Gebärden fördern die Toleranz gegenüber Mehrsprachigkeit nicht gerade. Dass dies nicht die Regel sein muss, zeigt das Beispiel Vanuatu: Der Inselstaat im Südpazifik hat die höchste relative Sprachdichte der Welt (über 100 Sprachen bei knapp über 200.000 Einwohnern) und fördert aktiv Mehrsprachigkeit, unter anderem auch im Schulunterricht.
Auch die zunehmende Verknüpfung von sozialem und wirtschaftlichem Aufstieg mit der Annahme einer großen Weltsprache sieht Evans kritisch, merkt aber auch an, dass dieser Sprachwechsel nicht alternativlos ist: Die Nutzung des Katalanischen in Barcelona und des Miskito in Nicaragua als geläufige Geschäftssprachen beweisen dies.
Kritisch bemerkt Evans auch einen allgemeinen Trend in der Sprachwissenschaft von der Empirie und deskriptiven Feldforschung hin zu rein sprachtheoretischen Arbeiten. Allerdings sieht er nicht nur komplett schwarz: Der Tod einer Sprache ist ein Prozess, der unter natürlichen Umständen (große Naturkatastrophen und Völkermorde also ausgeschlossen) ein bis zwei Generationen braucht – genug Zeit, um sie zu dokumentieren, wenn denn die Ressourcen und die Bereitschaft dazu da sind.
Wenn Sprachen sterben… ist zweifelsohne ein höchst anspruchsvolles Buch; in manch einer ausführlichen Beschreibung grammatikalischer Genese kann man sich als Leser etwas verloren fühlen. Im Großen und Ganzen schreibt aber Evans auch für Nicht-Sprachwissenschaftler verständlich und vor allem auch anschaulich, dank zahlreicher Beispiele. Seine natürliche Begeisterung bei der Beschreibung einzelner Sprachen und ihrer Grammatik ist stets spürbar. Hier wird deutlich, dass sein Buch auch implizit eine fragmentarische, aber doch mit universellem Anspruch ausgestattete Bestandsaufnahme darüber ist, „wie die Menschen über die Welt nachdenken können“. Es ist nicht nur ein vielleicht naives Plädoyer für Vielfalt. Es ist vor allem eine intensive Beschäftigung mit alternativen Denksystemen – die Aspekte der Welt denk- und sprechbar machen, wie es Englisch, Mandarin, Spanisch und Hindi (oder eben Deutsch) nicht können.
Nicholas Evans:
Wenn Sprachen sterben und was wir mit ihnen verlieren
C. H. Beck 2014
416 Seiten
29,95 €
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