Rezension: Verstaatlichung am Hindukusch

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In Asien und Afrika wird seit 20 Jahren versucht, Staaten zu bauen. Ein Buch zeigt in Praxis und Theorie, warum diese Versuche immer wieder scheitern.

von Philipp

Nachdem für Osama bin Laden Schluss ist (noch für kurze Zeit sind Namenswitze erlaubt), stellt sich erneut die Frage, welchem Zweck der Einsatz der ISAF in Afghanistan eigentlich dient. Die Suche nach den Verantwortlichen ist mit dem Ende Osamas erledigt – dieses Ziel hatte die UN-Resolution 1368 ausgegeben. Aber je länger der Einsatz dauerte, desto unübersichtlicher wurden die Ziele: Sturz der Taliban, Verhinderung des Drogenanbaus, der Schutz von Frauen und Mädchen oder aber der Aufbau einer Demokratie nach westlichem Muster. Dieses Ziel ist in den letzten Jahren der pragmatischen Sichtweise gewichen, dass man irgendwie einen Staatsapparat aufbauen will und dafür auch das teilweise menschenunwürdige Recht der Scharia in Kauf nimmt. Die Vielfalt der Ziele bringt nicht nur Pazifisten zum Grübeln. Nein, auch als Pragmatiker kann man sich mittlerweile fragen, warum ein paar tausend Bundeswehrsoldaten in Afghanistan sind, um sich selbst in einem Lager einzuschließen.

Warum immer wieder Staat?
Ein 2010 erschienenes Buch blickt skeptisch auf die Versuche der letzten Jahrzehnte, in Kriegsgebieten Staatsstrukturen aufzubauen (statebuilding). BLIESEMANN DE GUEVARA  und KÜHN versuchen dabei, eine realistische Sicht auf die Frage zu bekommen, warum statebuilding so oft scheitert. Dieses Buch ist aus zwei Gründen sehr angenehm zu lesen: es ist kurz und zudem verständlich geschrieben. Dadurch ist es ein Außenseiter in der deutschen Wissenschaft, denn es ist auch für interessiertere Bürger geschrieben, die kein Studium der Politologie absolviert haben. 200 interessante Seiten führen zu der Frage, warum wir überhaupt versuchen, Staaten zu bauen, wo keine sind – und werfen beim Weiterdenken Zweifel auf, ob wir für uns selbst so sklavisch am Staat festhalten sollten. Sicherlich, für Westeuropäer ist der Staat seit Jahrhunderten der zentrale Denkrahmen für menschliches Zusammenleben – und Regierungen tun auch alles dafür, dass dieser Denkrahmen erhalten bleibt.
Der Band ist fünfgeteilt: nach einer theoretischen und historischen Einführung in statebuilding und die Idee des Staates überhaupt, schließen sich zwei Fallanalysen an. Bosnien-Herzegowina und Afghanistan werden unter gleichen Leitfragen betrachtet. Die Ergebnisse werden in zwei abschließenden Kapiteln miteinander verglichen und zu einer skeptischen Theorie verwoben. Deren Kerndiagnose: Weil die internationale Politik Ansprechpartner braucht, baut sie Staaten nach westlichem Vorbild; diese aber lassen eine Verbindung von Bevölkerung und Staat vermissen. Sie sind daher nur leere Fassaden.
Die Kürze des Buches hat zwei Seiten: Ein Laie ist eher geneigt, 200 Seiten eines Beitrags zu politischen Zeitfragen zu lesen als 2000. Gleichzeitig aber bleiben manche wichtigen Entwicklungen blass und werden allenfalls skizzenhaft behandelt. So wird Demokratie leider nur auf Schulbuchniveau definiert. Auch das historische Kapitel über die Entwicklung der Idee des Staates (die vor allem der Herrschaftssicherung einzelner Familien diente) klingt an manchen Stellen eigenartig hölzern. So „erfindet“ Jean Bodin im 16. Jahrhundert die Idee der Souveränität. Die Autoren stellen es so dar, als habe diese Idee dann sofort Einfluss auf das Selbstverständnis von Herrschern und Ländern gehabt. Eine solche Darstellung lässt Machtdynamiken und -kämpfe aus, die man zum Verständnis kennen müsste. Sie ermöglichen die Lektüre aber eben auch jenen, die nicht Historiker sind. So findet sich beispielsweise auch eine Erläuterung der klassischen Herrschaftsunterteilung von Aristoteles – die außerhalb der entsprechenden Wissenschaften wahrscheinlich niemand kennt. Das Buch macht damit klar, dass es nicht nur für eine kleine Elite geschrieben wurde, sondern am politischen Diskurs mitwirken will. Abgerundet wird diese Darstellung durch eine knapp kommentierte Bibliographie.

Anekdoten und gute Fragen
Man liest viel Neues: Über den Staat an sich, aber auch über die Fallbeispiele. So wird deutlich, dass die USA die Taliban niemals ausgerüstet haben (wie oft behauptet). Man lernt aber auch, dass der Anführer der Taliban vor den anrückenden Amerikanern auf einem Motorrad geflüchtet ist – eine Anekdote, auf die man zu Gunsten von mehr Staatsgeschichte hätte verzichten können. Die Autoren zeigen auf, wie die „Interventionsindustrie“ dazu beiträgt, dass statebuilding-Missionen eigentlich nie ihr Ziel erfüllen können – weil sie an einer unerreichbaren Vorgabe hängen: dem Staat, der überall die alleinige Macht hat. Aber dieses Ideal wird nicht einmal in westlichen Staaten erreicht.
Dieses Buch sei allen empfohlen, die das Phänomen „Staat“ selbst noch nie hinterfragt haben oder eine gute Abhandlung über aktuelle Probleme internationaler Politik lesen wollen.  Es hat zwar einige Schwächen, aber es stellt die richtigen Fragen. Den entsprechenden Wissenschaftlern und Politikern sei es sowieso ans Herz gelegt, denn der „Arabische Frühling“ wirft viele Fragen auf. Wir sollten anfangen, uns über unsere Antworten zu streiten.

(Foto: Kevin Harber)

illusion-statebuildingB. Bliesemann de Guevara & F. P. Kühn:
Illusion Statebuilding: Warum sich der westliche Staat so schwer exportieren lässt
edition Körber-Stiftung 2010, 215 S., 14 €

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