Literaten auf der ganzen Welt verarbeiteten den Ersten Weltkrieg in ihren Werken. Bevor die „großen“ Romane zum „Großen Krieg“ erschienen, gab es die kurzen Geschichten: Über den Feldern vereint 69 Erzählungen.
von David
„Jeden Morgen, jeden Abend segnete er den Krieg und die Okkupation. Nichts fürchtete er mehr als einen plötzlichen Frieden. Für ihn war der Graf Walewski seit langem tot, an der Front gefallen oder von meuternden kommunistischen Soldaten umgebracht. Ewig hatte der Krieg zu währen, ewig der Dienst Fallmerayers an diesem Ort, in dieser Stellung. Nie mehr Frieden auf Erden.“ Der Erste Weltkrieg gilt als Ur-Katastrophe des 20. Jahrhunderts, als erste große Demonstration der fast unbegrenzten menschlichen Zerstörungskraft. Doch für den österreichischen Stationschef Adam Fallmerayer, der zwei Stunden von Wien entfernt und in einer großen Distanz zu politischen Weltereignissen lebt, entpuppt sich der Erste Weltkrieg als geradezu geniale Chance, um aus seinem kleinbürgerlichen Alltagstrott auszubrechen und zu seiner großen Liebe zu eilen: Gräfin Anja Walewska. Jahre vor dem Krieg hatten Fallmerayer und seine Frau die russische Adelige einige Tage lang bei sich versorgt, nachdem ein schicksalhaftes Bahnunglück sie praktisch vor die Haustür des Stationsvorstehers gebracht hatte. Fallmerayer verliebte sich – die Russin ging nach der Erholung vom Schock zurück in die Heimat. Als Soldat der österreichisch-ungarischen Okkupationstruppen in der Ukraine sieht der Stationschef Anja auf ihrem Landgut wieder…
Joseph Roths Kurzgeschichte vom Stationschef Fallmerayer ist eine der 69 Prosastücke, die der Sammelband Über den Feldern. Der Erste Weltkrieg in großen Erzählungen der Weltliteratur vereint. Darunter befinden sich Werke von Joseph Conrad, Rudyard Kipling, Gabriele d’Annunzio, Heinrich Mann, Alfred Döblin, Stefan Zweig, Franz Kafka, Jaroslav Hašek, Boris Pasternak, Ivo Andrić, Bertolt Brecht, Ernest Hemingway und anderen. Zweifelsohne verbinden viele Menschen das Bild des Grabenkampfes, des Schlachtfeldes mit dem „Großen Krieg“. Herausgeber Horst Lauinger betont jedoch, dass seine Zusammenstellung bewusst einen besonderen Augenmerk auf „Nebenkriegsschauplätze“ werfen sollte, auf „Etappen und Hinterland“, auf „zivile Refugien“, auf „Ideen- und Seelenräume“. Zugleich ermöglicht der Band dem deutschsprachigen Leser auch, sich mit ihm vielleicht weniger bekannten Autoren ein wenig vertrauter zu machen.
So etwa mit dem britischen Schriftsteller, Literaturkritiker und Publizisten Ford Madox Ford, der in seiner kurzen Erzählung „So ein Spaß! – Es ist der Himmel!“ einen dieser „Seelenräume“ eröffnet, die der Herausgeber verspricht: Die junge Joan beklagt einem Arzt gegenüber den Tod ihres gefallenen Verlobten Dicky, der nie wieder Spaß haben würde. Sowohl den Arzt wie auch Joan ereilt eine Vision von Dicky, wie er im Himmel in einer Kneipe bei Schlagermusik Spaß hat. Später unterhält sich der Arzt mit einer Laienschwester darüber. Es entsteht eine Diskussion über den Wert der Religion als Trostspender – und über die Erfindung Gottes und des Paradieses. „Sie sterben für Sie und mich. Es ist unsere Aufgabe, einen passenden Himmel für sie zu erfinden“, meint der Arzt und die Laienschwester pflichtet ihm bei: „Gott ist bestimmt reich genug, um für alle, die für uns sterben, Teestuben einzurichten.“
Spionage-Thriller im „Großen Krieg“
‚Profaner’ geht es in der längsten, und trotz oder gerade wegen ihrer ‚Trivialität’ vielleicht interessantesten Erzählung des Bandes zu: Der Erste Weltkrieg war auch ein Schauplatz der internationalen Spionage, und W. Somerset Maughams Der haarlose Mexikaner ist (auch) ein astreiner Agenten-Reißer. Ein Schriftsteller soll die Titelfigur bei einem Auftrag begleiten: Ein osmanischer Spion auf Botenmission muss ermordet, seine Dokumente müssen entwendet werden. Der Schriftsteller soll den schillernden und widersprüchlichen Auftragsmörder – ein luxussüchtiger Revolutionär, ein galanter Charmeur mit niedriger Gewaltschwelle – beobachten und später auszahlen. Zunächst von den Allüren des Lateinamerikaners genervt, gerät er rasch in einen Angststrudel, als er merkt, dass bei der Ausführung des Auftrags nicht alles mit rechten Dingen zugeht. Der haarlose Mexikaner verankert sich zwar fest im ‚trivialen’ Spionage-Genre, baut jedoch von den ersten Zeilen an eine dichte Atmosphäre der Angst und des Misstrauens auf, die von nur scheinbar beunruhigenden Äußerlichkeiten mehr schlecht als recht vertuscht werden kann. Maughams Erzählung entpuppt sich als meisterliches Stück über Spionage-Paranoia und die latente Gewalttätigkeit, die sie hervorruft.
Der fast 800 Seiten starke Band blickt auch jenseits des westeuropäisch-angloamerikanischen Raums. Mohammad Ali Dschamālzāde, der als Begründer der modernen persischen Prosa gilt, erzählt in seiner Geschichte Bärenfreundschaft von einer Karawane, die sich durch ein Land am Rande des Bürgerkriegs bewegt – die Loyalität der persischen Streitkräfte war während des Ersten Weltkriegs zwischen Deutschland und Russland gespalten. Als besagte Karawane einen verletzten russischen Soldaten aufnimmt, kommt es zu Spannungen. In Ryūnosuke Akutagawas Der Affe begibt sich eine Gruppe von Marinesoldaten auf die Suche nach einem Kameraden, der aufgrund des gnadenlosen militärischen Drills wahrscheinlich Selbstmord begangen hat.
Vielfältige, aber zufällige Auswahl
Warum Miroslav Krleža als einer der größten kroatischen Schriftsteller gilt, kann man in der Erzählung Baracke 5b eindrucksvoll nachvollziehen: In der gleichnamigen Abteilung eines von sommerlicher Hitze erdrückten Lazaretts erhebt sich eine Gruppe von todgeweihten Schwerverletzten zu einer hemmungslosen Feier aus Vergewaltigung, Prügelei, Saufgelage, Glückspiel und Gesang ein letztes Mal. Die krassen, grafischen und fast unerträglichen Beschreibungen von Kriegsverstümmelungen und die surreale Fiebertraum-Atmosphäre ergänzen sich zu einer unvergesslichen Lektüre.
Insgesamt bietet Über den Feldern eher einen impressionistischen als einen tiefgründig analytischen Zugang zur literarischen Verarbeitung der „Großen Krieges“. Begleitet werden die 69 Prosa-Stücke in ihrer offenbar rein zufälligen Anordnung lediglich von einem erschreckend banalen Nachwort, das hauptsächlich kontextlose Fakten, lose Zitate und Aufzählungen verletzter oder gefallener Schriftsteller aneinanderreiht. Die Autorenbiographien sind teils haarsträubend nichts sagend ausgefallen – und oft erfährt der Leser mehr über die genauen militärischen Dienstgrade des entsprechenden Autors als über dessen Werk.
Die lose Auswahlstruktur lädt zum Querlesen, zum Weiter- und Zurückblättern ein. Geradezu notwendigerweise – nicht alles kann gefallen, aber die Auswahl ist groß genug, dass jeder Geschmack ein bisschen etwas dabei finden kann.
Horst Lauinger (Hrsg.):
Über den Feldern. Der Erste Weltkrieg in großen Erzählungen der Weltliteratur
Manesse-Verlag 2014
783 Seiten
29,95 €
Schreibe einen Kommentar