Rezension: Baumwolle, Kanäle und Terror

In seinem Buch Macht der Unordnung revidiert der Historiker Christian Teichmann die Vorstellung des Stalinismus als „totalitäres“ Regime der extremen Kontrolle. Vielmehr habe es sich um eine willkürliche Herrschaft des Chaos gehandelt.

von David

Ordnung statt Chaos – das versprechen viele Antidemokraten in Europa, ganz gleich, ob in der Regierung oder nicht. Auch Wissenschaftler machen sich diesen Diskurs zu eigen, wenn sie Diktaturen in Kategorien von „Ordnung“ und „Kontrolle“ analysieren. In postsowjetischen autokratischen Staaten ist diese Losung sogar hegemonial, und so macht sich in Russland gar eine Stalin-Nostalgie breit – eine Sehnsucht nach vermeintlich „ordentlichen“ Zeiten mit „großen“ technologischen Fortschritten. In seiner Dissertation über die Kanalbauprojekte des Stalinismus in Usbekistan und Tadschikistan erklärt der Berliner Historiker Christian Teichmann, warum das alles Blödsinn ist. Der Stalinismus, so seine zentrale Hypothese, sei ein Regime der Unordnung gewesen, das seine Herrschaft durch die gewaltsame Inszenierung von Krisen sicherte – und zugleich permanent destabilisierte.
Macht der Unordnung: Stalins Herrschaft in Zentralasien 1920-1950 ist auch eine Wirtschaftsgeschichte über den Baumwollanbau und die Entwicklung von Bewässerungsstrukturen in dem geografischen Raum, in dem heute Usbekistan und Tadschikistan liegen. Dieses „Zentralasien“ wurde seit den 1880er Jahren als Gebiet zum Anbau von Baumwolle erschlossen, zunächst im Russischen Reich, seit den 1920er Jahren unter anderen politischen Vorzeichen, aber mit ähnlichen wirtschaftlichen Ambitionen auch in der Sowjetunion: Unter Stalin sollten in den kulturell und sozioökonomisch stark disparaten Regionen wirtschaftliche Entwicklung und Staatsaufbau Hand in Hand gehen.
Dem sogenannten Zentralasienbüro, den Bewässerungskontrollbehörden und den Verwaltungen der monumentalen Kanalbaustellen oblag es, Infrastrukturen und sozialistische Staatlichkeit aufzubauen, nach den Vorgaben Moskaus. Ob Landreformen, Forcierung des Baumwollanbaus auf Kosten anderer Wirtschaftsformen, Zwangskollektivierung oder der Bau moderner Bewässerungskanäle: Alle sowjetischen Projekte mündeten in chaotische Krisen, auf die die Bolschewiki mit Gewalt und Terror reagierten, was die krisenhafte Situation wiederum verschärfte. Die wirtschaftliche Rückständigkeit der Region, die erbitterte Konkurrenz zwischen verschiedenen wirtschaftlichen Monokulturen und ihren Akteuren, ethnische Konflikte zwischen Russen und Zentralasiaten sowie unter den Einheimischen selbst schufen den idealen Nährboden für einen Kreislauf aus Krise, Chaos und Gewalt.
Der stalinistische Terror – in Putins Russland heute gerne als notwendiges Übel zur Vorantreibung der wirtschaftlichen Entwicklung dargestellt – war dabei wirtschaftlich völlig kontraproduktiv, so Teichmann: Er vernichtete nicht nur massenhaft Menschen, sondern auch deren Knowhow, unterminierte jegliche Planungssicherheit und verhinderte dauerhaft wirtschaftliche und soziale Stabilität. Ihre Wirkung erzielte die massenhafte Gewalt nicht dadurch, dass sie durchgehend und auf gleichbleibendem Niveau eingesetzt wurde, sondern durch ihre Willkür und Plötzlichkeit. Die Macht des Sowjetregimes erwuchs nicht aus Ordnung, sondern aus den Unwägbarkeiten, denen die Bewohner des Sowjetstaates permanent ausgesetzt waren.
Christian Teichmann stellt sich in eine Reihe mit neueren Forschungen zum Stalinismus, die die Inszenierung von Chaos und Krisen – teils bis an die Grenze der Selbstzerstörung – als zentrale Strategie der Herrschaftssicherung im Stalinismus benennen. Macht der Unordnung wird manchmal aber sozusagen selbst von seinem Subjekt infiziert: Zwischen den originellen theoretischen Überlegungen zur Erforschung des Stalinismus und der eher klassischen Wirtschaftsgeschichte verliert sich das Buch bisweilen selbst in Unordnung – und kann beide Stränge, die sich eigentlich bedingen sollten, nicht befriedigend vereinen. Als reine Infrastruktur- und Wirtschaftsgeschichte Zentralasiens in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist Macht der Unordnung zu kurz und kursorisch. Als Essay, der neue Zugänge zur Analyse des Stalinismus sucht und nebenbei dazu ermuntert, gängige Diskurse über politische (Un-)Ordnungssysteme zu überdenken, ist das Buch zwar zu lang, allerdings auch äußerst gewinnbringend zu lesen.

Christian Teichmann:
Macht der Unordnung: Stalins Herrschaft in Zentralasien 1920-1950
Hamburger Edition
287 Seiten
28,00 €


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