Rezension: Schreibtischtäter – ein Begriff und seine Geschichte

(Foto: Jill Wellington/ Pixabay)
(Foto: Jill Wellington/ Pixabay)

Ein interdisziplinärer Sammelband widmet sich dem Typus des Schreibtischtäters und beleuchtet die wechselhafte und von manchem Missverständnis geprägte Historie dieser Bezeichnung.

von Frank

Adolf Eichmann, natürlich. Dieser Name ist sicher für die meisten die erste Assoziation mit dem Wort „Schreibtischtäter“. Und so wundert es nicht, dass auf dem Buchcover des Bandes Schreibtischtäter: Begriff – Geschichte – Typologie ein Foto des Mannes abgebildet ist, der als Leiter jener Abteilung im Reichssicherheitshauptamt tätig war, in der die sogenannte „Endlösung der Judenfrage“ der NS-Regierung administrativ koordiniert und organisiert wurde. Die zweite Assoziation mit dem Begriff „Schreibtischtäter“ wird für viele der Name Hannah Arendt sein – aber wie wir bei der Lektüre des Sammelbandes lernen werden, greift dieser Gedanke zu kurz.
Doch der Reihe nach: Die Herausgeber Dirk van Laak und Dirk Rose beziehen sich in ihrem Vorwort ebenfalls auf den Eichmann-Prozess, der seinerzeit große internationale Aufmerksamkeit erregte. Seitdem sei der Schreibtischtäter im öffentlichen Diskurs, vor allem in der Erforschung der NS-Geschichte zu einer „festen Größe geworden“ und werde auch auf andere historische Situationen übertragen. Somit bleibe er eine „ambivalente Figur der jüngeren Vergangenheit und Gegenwart“.

„Seit dem Prozess gegen Adolf Eichmann, den Organisator der Judenvernichtung im ‚Dritten Reich‘, ist die Figur des Schreibtischtäters aus der öffentlichen Diskussion nicht mehr verschwunden.“

Der im Wallstein-Verlag erschienene Sammelband geht zurück auf eine Tagung, die vom 9. bis 11. Oktober 2014 im Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen stattgefunden hatte. In der Zusammenstellung der Beiträge offenbart sich Fluch und Segen des interdisziplinären Anspruchs solcher Konferenzen bzw. der aus ihnen resultierenden Sammelbände. Die Autoren sind größtenteils Historiker, Literatur- und Medienwissenschaftler; heraus sticht der Jurist Jan Schlösser, dessen Thema der „strafjuristische Blick auf den Schreibtischtäter“ ist. Sein Beitrag, der laut Untertitel die „Möglichkeit und Grenze eines Brückenschlages zwischen Strafrechts- und Kulturwissenschaft“ hinterfragt, gibt dem Leser die Möglichkeit, sich sehr grundsätzlich Gedanken zur Frage strafrechtlicher (!) Verantwortung von Handelnden oder Befehlsgebern zu machen. Das kann für eine Befassung etwa mit den Nürnberger Prozessen oder den heutigen Täterprozessen wie gegen den früheren SS-Unterscharführer Oskar Gröning durchaus relevant sein; der Diskussion des Buches hilft es aber nur wenig weiter.
Zielführender ist hingegen die einführende Analyse von Dirk Rose, inwiefern es sich beim Schreibtischtäter um einen „Typus der Moderne“ handele. Rose verweist hierbei auf die Verschiebung der Einfluss- und Verantwortungsbereiche im Verwaltungs- und Staatswesen bis ins 19. Jahrhundert und die „Aufwertung der ‚Schreibtischarbeit‘ und einer Abwertung des kämpfenden Soldaten“. Auch wenn der Begriff untrennbar mit der NS-Geschichte verknüpft sei, lasse er sich doch nicht darauf reduzieren. Hierbei verweist der Mitherausgeber auf die langjährige Arbeit des Politikwissenschaftlers Raul Hilberg, der sein Hauptwerk Die Vernichtung der europäischen Juden als Teil seiner breit angelegten Forschungen zur Bürokratie moderner Staaten verstand, den Holocaust daher „als einen jederzeit wiederholbaren ‚Extremfall‘ bürokratisch organisierten Tötens“ verstanden haben.
Dem Denken des 2007 verstorbenen Hilberg und seiner Studie The Destruction of the European Jews (im englischen Original erstmals 1961 erschienen) widmet sich ausführlicher der Beitrag von René Schlott. Nicht unumstritten war Hilbergs Darstellung der Shoah als administrativer Prozess aus verschiedenen, einander folgenden Verwaltungsakten. In diesem „Phasenmodell“ spiele der Schreibtischtäter als „wichtigster Akteur dieser Bürokratie eine zentrale Rolle“, so Schlott. Bemerkenswert dabei: Der jüdische Exilant Hilberg erachtete eine antisemitische Einstellung der Schreibtischtäter nicht als Voraussetzung für deren Handeln, erläutert Schlott.

„Hilberg hielt bis zum Ende seines Lebens daran fest, dass ein Völkermord wie der Holocaust jederzeit wieder möglich sei.“

Eine minutiös und quellenkritisch aufbereitete Begriffsgeschichte zum Schreibtischtäter liefert der Beitrag von Christoph Jahr, der unter anderem klar macht, dass es zu kurz greift, die Wortherkunft Hannah Arendt zuzuschreiben: „Soweit ersichtlich, hat Arendt den Begriff Schreibtischtäter in keinem ihrer auf Deutsch geschriebenen Texte verwendet.“ Obwohl sie aber nicht die „Erfinderin des Begriffs“ war, führte „auf der Suche nach dessen Elementen und Ursprüngen kein Weg an ihr vorbei, hat sie doch das zugrunde liegende gedankliche Konzept schon früh entwickelt“, argumentiert Jahr in seinem sehr lesenswerten und anschaulich gestalteten Aufsatz.
Dirk van Laak erklärt in seinem abschließenden Beitrag, der Schreibtischtäter sei zu einer „spezifischen Kippfigur zwischen Person und Struktur, zwischen Moral und Unmoral […], einem Sinnbild für indirekte Prozesse“ geworden. Dabei listet van Laak auch einige interessante, offene Fragen auf: Wieso etwa hat der Begriff im englischsprachigen Raum mit seinen Übersetzungen (u.a. „desk murderer“ oder „white collar criminal“) keine vergleichbare Karriere gemacht?
Da im Laufe des Buches die Ursprünge des Begriffs immer wieder problematisiert werden, gibt es allerdings einige inhaltliche Wiederholungen – hier hätte die Abstimmung zwischen den Autoren optimiert werden können.
Doch allein schon René Schlotts Analysen und Christoph Jahrs akribisch recherchierte Beitrag zur Begriffsgeschichte („vom Synonym für den Holocaust zum Gestaltungselement von T-Shirts“) machen den Band, wenn er auch die jüngere Vergangenheit nur sehr kursorisch behandelt, zu einer echten Empfehlung – nicht nur für Zeithistoriker und Geschichtsinteressierte, sondern vor allem für Textschaffende und Journalisten. Denn Schreibtischtäter: Begriff – Geschichte – Typologie regt den aufmerksamen Leser ganz nebenbei zum Nachdenken an, sei es über die Aktualität bürokratischer Willkür oder manche politisch gesetzte, beschönigende Sprachregelung (man denke an die „Ankerzentren“).

Schreibtischtäter. Begriff – Geschichte – Typologie
Herausgegeben von Dirk van Laak und Dirk Rose
Wallstein Verlag 2018
320 Seiten
24,90 €


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