Rezension: Ödipus unter der Dusche

Das wohl bekannteste Werk Hitchcocks ist neben Die Vögel sicherlich Psycho. Über 20 Jahre nach dem Erscheinen in den USA wird das Buch Hitchcock und die Geschichte von ,Psycho‘ auf Deutsch veröffentlicht – zeitgleich mit der Verfilmung.

von LuGr

Es war ein kalter Tag im November 1957, an dem das 700 Einwohner zählende Dorf Plainfield im US-Bundesstaat Wisconsin landesweite Berühmtheit erlangen sollte. Ed Gein war ein schüchterner Farmer, den viele Bekannte trotz einiger seltsamer Bemerkungen als harmlos bezeichnet hätten. Doch dann verschwand die Besitzerin eines Gemischtwarenladens und die beiden örtlichen Sheriffs statteten Ed Gein einen Besuch ab. Obwohl er auf seinem 160 Morgen umfassenden Land einen Ein-Personen-Haushalt unterhielt, lebte er dort nicht allein. Zahlreiche Frauen leisteten ihm Gesellschaft – zumindest in ihren Einzelteilen. Ob er keinen Kaffee mehr im Haus hatte, weswegen er eine Tasse menschlicher Nasen auf dem Küchentisch stehen ließ? Ob ihm das Geld ausgegangen war für Geschirr, sodass er die obere Hälfte eines Schädels zur Suppenschüssel umfunktionierte? Im ersten Stockwerk fanden die beiden Sheriffs zwei verriegelte Zimmer; in einem von ihnen wohnte Geins längst verstorbene, doch nie vergessene Mutter.
Diese gruselige Geschichte inspirierte Schriftsteller Robert Bloch zu seinem Roman Psycho. Seiner Hauptfigur hängte er Freud’sche Theorien um den Ödipus-Komplex an, die Ende der 50er Jahre en vogue waren. Noch ein paar ausgestopfte Tiere dazu und fertig war eine Mixtur an der Grenze zwischen Detektivgeschichte und Schocker. Der mit abseitigem Humor gesegnete Alfred Hitchcock adaptierte sie allzu gern für das wagemutigste und künstlerisch nachhaltigste Werk seiner umfassenden Filmografie. Psycho finanzierte er aus eigener Tasche, drehte mit geringem Budget und verstieß gegen die zeitgenössischen Konventionen und Zensurbestimmungen Hollywoods. Ein Mord an der Hauptdarstellerin in der ersten Hälfte des Films? Nackte Haut und Travestie? Viele Wagnisse, die das Zensurbüro Hollywoods um ein Haar nicht passiert hätten.
Stephen Rebello veröffentlichte das Sachbuch Hitchcock und die Geschichte von ,Psycho‘ bereits 1990 und ihm gelang dabei eine Meisterleistung in Sachen Dramaturgie, die es trotz der zahlreichen Fakten und Dokumente in die Nähe eines packenden Thrillers rückte: psychologische Motive, eine ausgearbeitete Figurenbiografie – vor allem Hitchcocks – und eine in sich geschlossene Handlung vom Prolog (Ed Gein, Bloch) über die Haupthandlung (die Dreharbeiten von Psycho) bis hin zum Epilog (Hitchcocks Karriere nach Psycho). So wurde Psycho zwar zu Hitchcocks Meisterstück, mit dem er nicht nur sein Konzept der „suspense“ perfektionierte, sondern mit seinen kühnen Montagen auch das Grusel-Kino revolutionierte und zum unverzichtbaren Bestand der Popkultur avancierte. Doch sein bekanntester und stilbildender Film war Segen und Fluch zugleich: Er konnte seinen Erfolg nicht wiederholen, sondern bekam von den Universal-Studios Auftragsarbeiten wie Torn Curtain oder Topaz regelrecht aufgezwungen, bei denen er weder auf die Besetzung noch auf das Drehbuch großen Einfluss ausüben konnte. Diese umfassende Kontrolle hatte Psycho zum Klassikerstatus und dem aufmerksamkeitsbedürftigen Meister-Regisseur zur Zufriedenheit verholfen. Das betraf auch die legendäre Dusch-Szene, die beim Dreh des „30 Tage-Films“ und beim Filmschnitt viel Zeit kostete, mussten doch Splatter und Nacktheit geschickt umschifft werden.
Rebellos Buch ist ein „Making-of“ im besten Sinne: spannend, detailreich, gut recherchiert aus Gesprächsprotokollen, gespickt mit O-Tönen der Beteiligten. Zudem ist Hitchcock und die Geschichte von ,Psycho‘ ein beeindruckender Beweis dafür, dass sich auch die Entstehungsgeschichte eines Klassikers lesen kann wie ein guter Thriller. Das hätte auch dem akribisch arbeitenden „Master of Suspense“ gefallen.

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Stephen Rebello:
Hitchcock und die Geschichte von ,Psycho‘
Heyne, 2013
416 Seiten,
9,99 €

„Hitchcock“ (Regie: Sacha Gervasi)
dt. Kinostart: 14. März 2013

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