Eine quicklebendige Sprache

Wir verwenden sie täglich und machen uns doch kaum Gedanken darüber – unsere Sprache. Ein Blick in die Vergangenheit und Gegenwart des Deutschen.

von Helmut Weiß

Deutsch ist – wie jede andere natürliche Sprache – keine uniforme Erscheinung, sondern tritt in vielerlei Gestalten auf. Das Deutsche, wie es heute gesprochen und geschrieben wird, ist nicht dasselbe, das zu Goethes Zeiten gesprochen und geschrieben wurde. Damals herrschte eine ausgeprägte Diglossie: die sich zu dieser Zeit endgültig herausbildende und etablierende Standardsprache war nur schriftlich in Gebrauch, während in der mündlichen Kommunikation Dialekte oder sehr dialektnahe Umgangssprachen verwendet wurden. Das gilt selbst für unsere Klassiker. Goethe berichtet in seiner Autobiographie Dichtung und Wahrheit, dass er sich in Leipzig, wo er sich zum Studium aufhielt und wo man sich einbildete, ein besonders reines Hochdeutsch zu sprechen,  „jedesmal einen strengen Verweis zuzog“, wenn er zu sehr ins Frankfurterische abglitt.  Nach Schillers Lesung seines Werkes die Verschwörung des Fiesco zu Genua im Mannheimer Theater hieß es sogar „Aus dem Fiesco wird ein Fiasko“. Aufgrund seines schwäbischen Dialekts verstanden die Zuschauer nicht, wie gut das Drama eigentlich war.

Eine Sprache, die nicht gesprochen, sondern nur geschrieben wird, mutet uns heute etwas seltsam an: man denkt dabei eher an eine tote Sprache wie Latein, die nur noch für spezielle Zwecke (z.B. als Wissenschaftssprache) benutzt wird. Aber Standardsprachen, worunter man gemäß Duden „über den Mundarten, lokalen Umgangssprachen und Gruppensprachen stehende, allgemeinverbindliche Sprachformen“ versteht, haben sich zunächst als Literatur- und Verwaltungssprachen entwickelt. Das gilt insbesondere für das Standarddeutsche, das nicht auf einem bestimmten Dialekt basiert, sondern als eine Art Ausgleichssprache zwischen verschiedenen ostmittel- und ostoberdeutschen Dialekten entstanden ist. Sprachen, die nur geschrieben werden, können außerdem nicht im natürlichen Erstspracherwerb angeeignet werden. Sie werden als schreibbare Zweitsprache, in der Schule  beziehungsweise früher auch häufig durch Selbstunterricht gelernt. Durch diese beiden Aspekte – fehlender Erstspracherwerb und Beschränkung auf das Medium der Schriftlichkeit – wirkte das Sprachsystem zum Teil künstlich. Ein markantes Beispiel ist der Genitiv, der bekanntlich im Standarddeutschen noch existiert, obwohl er schon zu frühneuhochdeutscher Zeit aus den Dialekten verschwunden ist. Etwas überspitzt formuliert, könnte man den Genitiv als „Buchkasus“ bezeichnen, da er nur in und dank der Schriftsprache überlebte.

Bezogen auf die beiden grundlegenden Parameter Spracherwerb und Medialität kann die Entwicklung des Standarddeutschen (bzw. Hochdeutschen, wie man es häufig auch nennt) in vier Stufen beschrieben werden. Auf der ersten Stufe war Standarddeutsch eine nur sekundär gelernte Schriftsprache. Hier begegnen nicht selten Konstruktionen, die aufgrund ihrer syntaktischen Komplexität in der spontanen Sprechsprache kaum möglich sind. Beispielsweise Buchtitel à la Engelbrechts, eines Tuchmacher Gesellen aus Winsen an der Aller Beschreybung von dem Himmel und der Hölle oder Wortteilellipsen wie bey Gut- und Blutes Straffe oder in Erober- und Plünderung der Statt, die in dieser extremen Form vermutlich in keinem Dialekt vorkamen und die daher die weitgehende Trennung von sprech- und schriftsprachlicher Kompetenz illustrieren. Danach folgte eine Stufe, in der Standarddeutsch zwar immer noch nicht ersterworben und gesprochen wurde, in der sich aber die Schreiber an der gesprochenen Sprache zu orientieren begannen. In der Literatursprache ist diese Annäherung vor allem ab dem Sturm und Drang zu beobachten. In den Dramen von Jakob Michael Lenz finden sich gehäuft sprechsprachliche Muster und Konstruktionen wie, um nur zwei Beispiele zu nennen, Reduktionsformen von Artikel und Pronomen (daß er’s Aufstehen vergißt) und der Indefinitartikel ein als Approximativmarker (so wollt ich gern ein zehn Jahr‘ eher sterben).

Auf der dritten Entwicklungsstufe ändert sich nun tatsächlich und nicht nur konzeptuell die Medialität: man beginnt Standarddeutsch vermehrt in der Alltagskommunikation zu sprechen. Dieser Wandel setzt vereinzelt schon im 19. Jahrhundert ein und führt zu „systembereinigenden Entwicklungstendenzen“, wie der Sprachhistoriker Peter von Polenz es genannt hat. Darunter fallen u.a. Vereinfachungen im Bereich der Kasusmorphologie und –syntax (z.B. ein Glas Weines -> ein Glas Wein) oder die Zunahme analytischer Formen. Diese kann man etwa beim Konjunktiv (ich würde jetzt gerne gehen anstelle von ich ginge jetzt gerne) beobachten oder bei der sog. tun-Periphrase, die vor allem umgangssprachlich vorkommt. Ein schönes Beispiel dafür findet sich auf der Internetseite des Instituts für deutsche Sprache: „Ich tu halt lieber Menschen retten, als sie zu erschießen, definiert der 20jährige salopp seine Entscheidung für das Rote Kreuz und später für den Zivildienst“. Häufig handelt es sich dabei um Veränderungen, die in den Dialekten vorher schon eingetreten sind und die nun in den gesprochenen Standard übernommen werden. Es fand also eine Art Ausgleich zugunsten der Dialekte statt.

Um die Mitte des 20. Jahrhunderts beginnt dann etwas völlig Neues: immer häufiger wird jetzt nicht mehr ein Dialekt als Primärsprache erworben, sondern Standarddeutsch (bzw. umgangssprachliche Varianten davon). Dieser Spracherwerbswechsel ist bedingt durch außersprachliche Faktoren: zum einen „durch Massenflucht und –vertreibung seit 1945, Motorisierung und berufliche Mobilität“, so Peter von Polenz, und zum andern durch den Einfluss moderner Massenmedien (vor allem Rundfunk und Fernsehen). Für das Standarddeutsche hat das insbesondere zwei Konsequenzen. Einerseits wird das sprachliche System gewissermaßen naturalisiert und regularisiert, das heißt die schon angesprochenen künstlichen Züge des Deutschen werden weiter abgebaut.  Andererseits kommt es zu einer sogenannten Destandardisierung,  durch Entwicklung von Regionalsprachen bzw. Regiolekten. Diese ersetzen Dialekte als Sprechsprachen und zeigen auch spezifische Eigenschaften, die ursprünglich in den jeweiligen regionalen Dialekten vorkamen. So wird man einen Satz wie Da hab ich aber noch nichts von gehört eher von einem norddeutschen Sprecher hören als von einem süddeutschen, der dagegen eher Sätze wie Der Adenauer wenn das noch erlebt hätte äußert. Der Grund dafür ist, dass die Spaltung von Pronominaladverbien (da … von) als typisch niederdeutsch gilt, während die Extraktion eines Satzgliedes aus einem konjunktionaleingeleiteten Nebensatz (Der Adenauer wenn … anstelle von Wenn der Adenauer …) typisch für ostoberdeutsche Dialekte wie das Bairische ist. In Frankfurt und Umgebung hört man dagegen Leute, die wissen wollen, wem etwas gehört, fragen: Wem ist das? – auch dies eine typisch regionalsprachliche Wendung (hier aus dem sog. Neuhessischen). Die zunehmende Diversifikation des Standarddeutschen zeigt sich auch darin, dass sich in allen deutschsprachigen Staaten nationale Standards herausgebildet haben, sodass man am Wortschatz und anderen sprachlichen Eigenheiten erkennen kann, ob jemand aus Österreich oder der Schweiz kommt. Österreicher z.B. erkennt man an bestimmten Ausdrücken wie Marillen statt Aprikosen oder der sehr speziellen Verwendung der Partikel eh (etwa in Antworten wie Ja eh).

Neben Regionalsprachen gibt es weitere Varietäten des Deutschen, etwa die Jugendsprache oder das in den letzten Jahren intensivst erforschte Kiezdeutsche. Eines der bekanntesten Merkmale des Kiezdeutschen ist die Weglassung der Präposition bei Direktional- und Lokalangaben: Ich geh Kino – das ist für viele eher sprachkonservative Zeitgenossen ein Zeichen des Niedergangs des Deutschen. Da solche Eigenschaften aber kaum den Weg in mehr standardnahe Varietäten des Deutschen schaffen dürften, können sie auch kaum dessen Niedergang bewirken.

Das heutige Deutsche hat in den letzten zwei bis drei Jahrhunderten eine erstaunliche Entwicklung durchgemacht. Es entwickelte sich von einer nur geschriebenen Zweitsprache über verschiedene Zwischenstufen zu einer voll-natürlichen Sprache, die ersterworben und in der mündlichen Alltagskommunikation benutzt wird. Der Preis, den man dafür offenbar zahlen muss, ist ein gewisses Ausmaß an Destandardisierung. Das wird von manchen als Sprachverfall gesehen – etwa in der Diskussion um das Kiezdeutsche oder bei der Klage über das Schwinden des Genitivs –, es ist aber eher ein Beleg dafür, dass das Deutsche lebt, und für lebende Sprachen ist es natürlich, dass sie sich wandeln. Nur eine tote Sprache verändert sich nicht mehr.


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