Zum dritten Mal ist Wladimir Putin an der Macht. Trotz der in Moskau tobenden Proteste wird er von der Mehrheit des Volkes gewählt. Was veranlasst die russischen Bürger, ihrem „Zaren“ den Mangel an Demokratie und Flexibilität zu verzeihen?
von Anja
„Früher war es ein Ereignis, wenn der Lohn rechtzeitig ausgezahlt wurde. Unter Jelzin gab es Zeiten, in denen man zwei bis drei Monate gar kein Geld für die geleistete Arbeit bekam oder der Verdienst in Waren ausgezahlt wurde, mit Lebensmitteln, Kassetten, Hausschuhen“, erinnert sich Andrey Rubzov, Abteilungsleiter in einem großen Unternehmen in Jekaterinburg, an die Zeiten in den 1990er Jahren. „Zwischen 2000 und 2012 liegt eine tiefe Kluft. Mit Putin kam Stabilität. Heutzutage ist man beruhigt, denn das Geld ist jeden Monat pünktlich da. Es gibt keine Probleme, keine Verzögerungen.“ Damals herrschten im Land Willkür und Chaos.
Der Mut und die Standhaftigkeit der Menschen, die in ihren produktivsten Lebensjahren den Zusammenbruch der Sowjetunion und die darauf folgende Angst und Hoffnungslosigkeit erlebt hatten, ist zu bewundern. Damals schlossen sie ihr Studium ab, fingen an, Geld zu verdienen, Familien zu gründen. Plötzlich aber endeten die Zukunftspläne abrupt: Das Land, in dem sie und ihre Kinder geboren wurden, existierte nicht mehr. Für alle Produkte standen sie ewig Schlange; auch das Notwendigste, Milch, Eier und Brot, gab es nur gegen Bezugsscheine. Die permanente Angst nicht nur um sich selbst, sondern vor allem auch um ihre Kinder, drang tief in diese Menschen ein.
Daraufhin folgten mehrere Jahre der Neugestaltung des Staates: Verbrechen, Erpressungen, die Armut der Einen und plötzlicher Reichtum der Anderen konnten nicht verhindert werden. Der damalige Präsident Jelzin zeigte sich offensichtlich betrunken während Regierungssitzungen und verlor das Vertrauen seiner Landsleute. Russland wurde in die Staatspleite getrieben. Der Preis für Produkte verdreifachte sich innerhalb nur eines Jahres.
Retter der Stabilität
Immer häufiger kamen beunruhigende Meldungen aus dem Kaukasus, die einheimischen Völker kämpften dort um ihre Unabhängigkeit. Bombenanschläge auf Moskauer Wohnhäuser sorgten dafür, dass der Zweifel, die Unruhe und das Misstrauen in der Bevölkerung in kürzester Zeit bis zum Äußersten stiegen. Diejenigen, die eine Möglichkeit hatten, emigrierten. Die Anderen blieben in einem Werte-Vakuum, ohne sichere Zukunft. Diese Bedingungen waren äußerst günstig für Putin, der mit seinem Image des „starken und unnachgiebigen Mannes“ große Aufmerksamkeit auf sich zog. Dieses Image wird immer noch durch PR-Maßnahmen und seine Medien-Auftritte (beispielsweise seine Live-Gespräche mit der Bevölkerung) verbreitet. Vielen Verzweifelten schien er als Hoffnungsträger, der durch sein Handeln das Land aus der tiefsten Rezession holte.Deshalb stieg seine Popularität rasant. Seinem Amtsantritt folgte eine Reihe von Entlassungen im Regierungsapparat: Den Oligarchen, die davor die innere Wirtschaftspolitik nach persönlichen Interessen bestimmt hatten, wurde der Kampf angesagt. Nach und nach verloren sie ihre Einflussmöglichkeiten. Tschetschenische Aufstände wurden beendet. Putins Handeln fand – trotz einiger Proteste von Menschenrechtsorganisationen – breite Anerkennung, denn die Angst, selbst Opfer weiterer Terroranschläge zu werden, überwog in der Bevölkerung.
Für die Politik bildete die materiell wenig abgesicherte Gesellschaftsschicht in den 2000er Jahren die bedeutendste Wählergruppe. Der Anstieg des Ölpreises war ein weiterer glücklicher Zufall für Putin. Die russische Wirtschaft erholte sich nun von der Krise: Bereits im Jahre 2001 wuchs das Bruttoinlandprodukt um 5,1 Prozent und die Inflationsrate halbierte sich. Um die eigene Position zu sichern und die breite Schicht der Wähler langfristig zu binden, wurde in Russland versucht, ein Modell des Sozialstaates einzuführen. In Putins ersten zwei Amtszeiten verbesserten sich die Lebensbedingungen der Bürger wesentlich. Unter Putin wurde u.a. ein Mutterkapital eingeführt: Für jedes zweite und weitere Kind bekommt man pro Jahr 408.900 Rubel, umgerechnet etwas mehr als 10.000 Euro. Staatliche Zuschüsse für Doktoranden und wissenschaftliche Mitarbeiter wurden verdreifacht, die Rente für Militärpersonen gar vervierfacht. Im letzten Jahr trat Russland der WTO bei, was sich positiv auf die Investitionsattraktivität des Landes auswirkte. Der Vorgang der Firmengründung wurde erleichtert und dank des Internets entbürokratisiert.
Portrait des Putin-Wählers
Die Bevölkerungsschicht, die für Putin stimmt, ist sehr heterogen, deshalb kann der „typische“ Putin-Wähler nicht bis ins Detail beschrieben werden. Dennoch existieren Merkmale, die diese Bürger verbinden: Es sind Menschen mit relativ geringem Einkommen, deren Lebenssituation sich seit den neunziger Jahren dank sozialer Geschenke der Präsidentenadministration erheblich verbessert hat. Sie wurden größtenteils in der Sowjetunion sozialisiert, weswegen sie staatliche Umverteilung, traditionalistische Werte (beispielsweise Kollektivismus und Loyalität) sowie Abhängigkeit vom Regime für üblich halten. Diese fatalistische Haltung verbinden sie mit Zynismus gegenüber den Machthabern. Dennoch sehen viele von ihnen in den anderen Politikern keine Alternative zu Putin. Diese Bürger halten am Status quo fest und fürchten gleichzeitig eine Wiederholung der Unsicherheit, der Destabilisierung und der Unruhen, die ein Jahrzehnt zuvor geherrscht hatten. Meistens empfinden sie widersprüchliche, aber zärtliche Gefühle gegenüber ihrem Heimatland. Das macht sich heutzutage die Regierung zunutze: Putins Administration setzt verstärkt auf die nationalpatriotische Karte. In dieser Hinsicht betont die Zeitung Russland unter Putin: „Mit der Wahl Putins zum Präsidenten gewann in der Bevölkerung der nationale Patriotismus sowie der Glaube an Russlands Größe und Stärke wieder zunehmend an Bedeutung.“
Hans-Henning Schröder, Leiter der Forschungsgruppe Russland/GUS der Stiftung Wissenschaft und Politik, beschreibt das Sammelportrait des Putin-Wählers wie folgt: „Grundsätzlich ist es die Großgruppe der Bevölkerung, die sich nach sozialer Sicherheit und Stabilität sehnt und Putin als Garanten sieht. Diese Leute sind nicht so nostalgisch, dass sie Kommunisten wählen, sind aber auch nicht risikobereit genug zu sagen: ‚Wir brauchen jetzt Reformen, liberale Veränderungen und mehr politischen Kampf!‘“
Maria Lipman, die Chefredakteurin der Moskauer Zeitschrift Pro et Contra verdeutlicht, dass sich das Regime auf die öffentliche Stimmung stütze, die auf der Ablehnung der Eigenverantwortung, Verdacht gegen alles Neue sowie auf Aversionen gegen alles, was „anders“ ist, basiere.
Von Jahr zu Jahr machen sich jedoch strukturelle Veränderungen in der russischen Gesellschaft bemerkbar. Seit 2000 bildet sich eine wachsende und vielfältige Schicht der gut ausgebildeten, wohlhabenden Russen, die viele Perspektiven im eigenen Land haben und nicht ausreisen wollen. Sie verlassen sich mehr auf ihre eigenen Fähigkeiten, bevorzugen kreative Tätigkeiten und sehen Chancengleichheit und Individualismus als zentrale Lebensprinzipien. Für sie haben persönliche Entwicklung, Freiheit und Eigenverantwortung einen hohen Stellenwert. Insbesondere die Mittelschicht in den großen Städten fordert einen Rechtsstaat und ist gegenüber der Regierung Putins äußerst misstrauisch. Bisher bleibt aber diese Gesellschaftssicht der Liberalen und Kreativen ohne politischen Einfluss. Wann die Veränderungen kommen, bleibt fraglich. Dennoch sind in Russland politische Besserungen in Sicht. Schröder betont: „Die Zustimmungswerte für Putin und seine Administration sinken. Zwar nicht katastrophal, aber kontinuierlich. Die Faszination, die es in seinen ersten beiden Amtszeiten gegeben hat, existiert nicht mehr.“
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