Bereits vor Jahrtausenden gab es Ansätze zur Rekonstruktion von Nasen im alten Indien. Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert trieben bürgerliche Selbstoptimierungswünsche und bislang unvorstellbare Kriegsverstümmelungen die Plastische Chirurgie voran.
von Lara
Eine junge, eigentlich hübsche Frau blickt in die Kamera. Das Bild ist entsättigt, untermalt von trauriger Klaviermusik. „Ich fühle mich in meinem Körper gefangen.“ Schnitt. Jetzt liegt sie, eingerollt in eine Decke, auf einem Sofa: „Ich schäme mich. Ich ekel’ mich vor mir.“ Silke Brechtelsbauer ist Teilnehmerin der RTL2-Show Extrem schön, die ihren Kandidaten mithilfe von Brustvergrößerung, Bauchstraffung & Co helfen will, ihr Lebensglück wieder zu finden – und sie spiegelt das Bild der Plastischen Chirurgie wider, das die öffentliche Einstellung momentan prägt. Denn nicht nur ästhetische Operationen sind längst kein soziales Randphänomen mehr, auch die Kritik am Zeitgeist des Schönheitswahns ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Während im Jahr 2011 weltweit über 6,3 Millionen chirurgische sowie mehr als 8,3 Millionen nichtoperative Eingriffe auf diesem Gebiet verzeichnet wurden und private Fernsehsender in Shows wie Extrem schön oder The Swan das naiv verklärte Bild eines seelischen Allheilmittels präsentieren, berichtet Stiftung Warentest von einer „Kultur des Künstlichen“. „Das teure Geschäft mit der falschen Schönheit“ titelt Die Welt. Von denen, die sich ihre durch Unfälle oder Krankheit verlorene ‚echte Schönheit’ zurückkaufen, spricht kaum jemand.
„Unser Fach ist immer noch primär durch die Rekonstruktion definiert“, so Lukas Prantl, Sekretär der Deutschen Gesellschaft der Plastischen, Rekonstruktiven und Ästhetischen Chirurgen (DGPRÄC). Nur bei etwa 30 Prozent lag 2011 der Anteil der „Schönheitsoperationen“ an der Plastischen Chirurgie. Die Aussage lässt sich jedoch nicht nur in Bezug auf heutige Operationszahlen verstehen: Die Rekonstruktive Chirurgie bildet die Grundlage, auf der sich die gesamte Disziplin entwickelt hat.
Anfänge in Indien
Der Wunsch nach einem Mehr an Schönheit, ebenso wie die Suche nach Wegen, es zu erlangen, ist so alt wie das Konzept Schönheit selbst. Chirurgische Interventionen zu diesem Zweck gab es dabei schon vor Jahrtausenden. Die Wiege der Rekonstruktiven Chirurgie liegt im alten Indien: Eine verbreitete, jedoch auch recht endgültige Strafe für Gesetzesbrecher war hier das Abschneiden der Nase – daher entwickelte man eine Methode zur operativen Wiedereingliederung in die Gesellschaft, detailliert beschrieben in überlieferten medizinischen Schriften. Mithilfe eines der Stirn entnommenen Hautlappens wurden erste Ansätze einer Korrektur des Äußeren geschaffen – bis zur Geburtsstunde der Ästhetischen Chirurgie sollten jedoch noch mehrere Jahrhunderte vergehen.
Zur Zeit der Renaissance wurde neben vielem Anderen auch die indische Rhinoplastik wiederentdeckt und im Laufe der folgenden Jahrhunderte daraus ein Verständnis der Plastischen Chirurgie entwickelt, das sich erst an der Schwelle zum 20. Jahrhundert erneuerte. Das Fin de Siècle war eine Zeit des Fortschritts und der Umbrüche, im medizinischen wie im industriellen Bereich. Im stetigen Versuch der Abgrenzung gegenüber der rasant wachsenden Arbeiterschicht wie auch der höfischen Kultur hatte sich im 19. Jahrhundert ein Bürgertum etabliert, zu dessen Statussymbolen neben einer eigenen Körpersprache auch die freie Zeit gehörte, der Kunst einen herausragenden Stellenwert im Leben zu geben. Schönheit konnte dadurch zum Selbstzweck und Lebensinhalt werden; Umberto Eco spricht in diesem Kontext sogar von einer „ästhetischen Religion“. Dies schloss auch den eigenen Körper ein: Schönheitsratgeber, in denen gemäß der aufklärerischen Verwissenschaftlichung aller Lebensbereiche auch das Aussehen ‚vermessen’ und Schönheit mathematisch ermittelt werden sollte, wurden populär. Vor dieser Kulisse führte der Chirurg Erich Lexer 1906 die erste erfolgreiche Gesichtsstraffung durch. Zur selben Zeit entwickelte der Berliner Jacques Joseph neue Methoden der Gesichtsplastik, speziell der Nasenbegradigung. Beide Männer sahen ihre Profession als Form der Kunst und machten so den menschlichen Körper selbst zum Medium – und die Nachfrage nach ihren ‚Werken‘ wuchs: Die Möglichkeit weitestgehend keimfreier Operation sowie neue anästhesistische Verfahren ließen die Hürde für chirurgische Maßnahmen sinken. Nicht nur medizinische Indikationen, auch psychologische Konsequenzen von Schönheitsmängeln konnten nun einen Leidensdruck aufbauen, der ausreichte, um die physischen Schmerzen einer Operation zu überwiegen. Gesellschaftlich war dies ein Novum: Zum ersten Mal lag die Hoheit über die Einschätzung der eigenen Schönheit beim Individuum, zum ersten Mal entschied das subjektive Empfinden des Patienten über die Anwendung medizinischer Maßnahmen.
Krieg als ‚Innovationsmotor‘
1914 erklärte Österreich-Ungarn Serbien den Krieg. Artilleriegeschosse und Gewehrkugeln schlugen ihren Weg durch die kriegsbegeisterte Bevölkerung und hinterließen Wunden, die in der von der Heeresleitung verbreiteten Propaganda eines „humanen Krieges“ nicht existierten. Etwa jeder elfte Kriegsversehrte hatte Gesichtsverletzungen. Und so füllten sich die Lazarette mit Menschen, die es offiziell nicht gab – mit buchstäblich Gesichtslosen, von der Front ferngehalten, um die Truppenmoral nicht zu destabilisieren. Im Juni 1916 wurde an der Berliner Charité eine Abteilung für Plastische Chirurgie eröffnet, mit deren Leitung eben jener Jacques Joseph betraut wurde. Die Operationen, die hier durchgeführt wurden, brachten eine Welle von Innovationen, darunter 1918 auch die erste vollständige Gesichtsrekonstruktion, und legten den Grundstein für die moderne Rekonstruktive Chirurgie. Auch nach Kriegsende und der Schließung der Abteilung 1922, blieb die Herausforderung für die Profession durch unzählige Veteranen bestehen.
Die folgenden Jahre bildeten in der westlichen Welt einen hervorragenden Nährboden für die ästhetischen Bemühungen in der Plastischen Chirurgie: Abseits von existentiellen Grundängsten konnte die medizinische Forschung immer weiter voran schreiten, um das Leben der Konsumenten möglichst angenehm zu gestalten. Durch die Werbe- und Filmindustrie etablierte sich eine neue gesellschaftliche Elite, deren definierendes Merkmal ihr Aussehen ist. Die „Reichen und Schönen“ lebten dem Einzelnen live und in Technicolor vor, dass er alles sein kann, was er will – und dass Schönheit ein Weg dorthin ist. Der Begriff der Schönheit selbst erlebte einen Bedeutungswandel: Während das Äußere früher als gottgegeben gegolten hatte, war es jetzt durch Disziplin und Leistungswillen selbst formbar. Schönheit wurde gleichgesetzt mit Erfolg – wer nicht erfolgreich war, hatte dies selbst zu verantworten.
Was Straftäter im alten Indien, Männer ohne Gesicht in Berliner Lazaretten und Menschen wie Silke Brechtelsbauer eint, ist der Wunsch normal zu sein. Die Herausforderung liegt darin, zu erkennen, ob die Norm, auf die er sich bezieht, erfüllbar ist – und ob deren Erfüllung dem Patienten weiterhilft. „Attraktivität und Schönheit wird durch ein großes Kollektiv an Befragten definiert“, sagt DGPRÄC-Sekretär Prantl. Eine klare Grenze zwischen Norm und Ideal gibt es hier genauso wenig wie zwischen Rekonstruktiver und Ästhetischer Chirurgie. Dass „das Hauptziel der plastischen Gesichtsoperation darin bestehen muß, die Depression des Patienten zu heilen“ schreibt Joseph 1931. Gut 67 Jahre später wurde in einer Studie bei 64,5 Prozent der männlichen und 39,6 Prozent der weiblichen Patienten Plastischer Chirurgen eine psychiatrische Diagnose gestellt. Eine andere Untersuchung belegt, dass Frauen mit kosmetischen Brustimplantaten eine höhere Selbstmordrate aufweisen. Die psychische Depression als Operationsgrund ist offenbar heute genauso vorhanden wie damals.
Drei Operationen, 410 Gramm Silikon und eine ordentliche Menge Wasserstoffperoxid später umarmt Silke Brechtelsbauer strahlend ihre Kinder. „Sie hat wieder gelernt, sich selbst zu lieben“, sagt der Sprecher. Dass es so einfach ist, bleibt jedenfalls zu bezweifeln.
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