Partei der Ohrfeigenden

Auf dem SPD-Bundesparteitag in Leipzig setzte es bei den Vorstandswahlen so manche Ohrfeige: Die Delegierten ließen mittels entzogener Zustimmung Dampf ab. Am Rande dessen trafen wir einen Bundestagsabgeordneten, der reichlich Erfahrung damit hat, Prügel zu kassieren – im Wrestling-Ring.

von Frank

2013 sollte ein feierliches Jahr für die SPD werden: das große Partei-Jubiläum in Leipzig, der 100. Geburtstag Willy Brandts im Dezember. Nach der Bundestagswahl ist nun in Leipzig beim Bundesparteitag nicht zum Feiern zumute. Dennoch wird natürlich der runden Jahrestage immer wieder gedacht, wird auf die lange stolze Geschichte verwiesen und immer wieder der sozialdemokratische Übervater Brandt zitiert.
Allen voran der SPD-Vorsitzende weiß solche Bausteine in seine Rhetorik einzubinden, doch Sigmar Gabriels Rede, in er vor allem eine Bilanz des Wahlkampfes – und der Wahlniederlage – zieht, schont die Parteiseele nicht sonderlich. Denn die Ursachen für das schlechte Ergebnis sucht er bei der Partei selbst, nicht beim Kanzlerkandidaten Steinbrück, nicht bei den Medien. Und er zeigt sich für zukünftige Wahlen offen gegenüber Koalitionen mit der Partei Die Linke – auch auf Bundesebene. So steht es im Leitantrag, den die Delegierten wenig später mit großer Mehrheit verabschieden werden. „Der Schlüssel“ für diese Koalitionen, so lässt Gabriel allerdings wissen, „hängt nicht im Willy-Brandt-Haus“, also nicht bei den Sozialdemokraten, sondern bei der Linkspartei. Als Außenstehender muss man sich freilich ein wenig wundern: Geht’s hier nur um SPD und Linke, wer fragt eigentlich die Grünen? Denn Rote und Rote kamen bei der Wahl im September zusammen auf gerade mal 34,3 Prozent, also in etwa so viel, wie Merkels CDU. Und dass die Grünen bereit sind, sich für neue Koalitionen im Bund zu öffnen – in denen weder die SPD noch die Linke vorkommt – haben ihre Sondierungen mit der Union bewiesen.

Allgemeines Abwatschen

Insgesamt liefert der Parteivorsitzende in der Leipziger Messehalle eine nachdenkliche, in der Diagnose gar schonungslose Rede, die von den Delegierten mit entsprechend zurückhaltendem Applaus bedacht wird. Wenige Stunden später, bei seiner Wiederwahl zum Vorsitzenden, muten ihm die Genossen denn auch ein, wie Gabriel selbst es nennen wird, „sehr ehrliches“ Ergebnis zu: eine Zustimmung von 83,6 Prozent – 2011 war er noch mit fast 92 Prozent gewählt worden.
Dass er damit noch verhältnismäßig glimpflich davongekommen ist, wird sich später bei der Wahl der Generalsekretärin und der fünf stellvertretenden Vorsitzenden zeigen: Andrea Nahles, ohnehin bei vielen in der Partei nicht besonders hoch im Kurs, wird mit nur 67 Prozent Zustimmung abgestraft. Nun ist es nicht ungewöhnlich, dass die Delegierten ihre Generalsekretäre, in diesem Falle Nahles, nach einer krachend verlorenen Wahl zurechtstutzen; schließlich zeichnen diese qua Amt maßgeblich verantwortlich für den Wahlkampf (bzw. für dessen Misserfolg). Überraschend ist dagegen, dass auch der restliche Vorstand fast quer durch die Bank eine kleinere oder größere Ohrfeige von den Delegierten erhält, sei es NRW-Landesmutter Hannelore Kraft (vor zwei Jahren noch mit 97 Prozent gewählt, fiel die Zustimmung auf 85,6 Prozent) oder Olaf Scholz, der mit absoluter SPD-Mehrheit im Hamburger Rathaus sitzt und bei seiner Wiederwahl als Partei-Vize ähnlich schlecht wie Nahles abschneidet.
Dass dieses Abwatschen nicht bloß den üblichen Befindlichkeiten zwischen eher linken und eher rechten Genossen geschuldet ist, zeigt sich wenig später bei den Wahlen zum erweiterten Parteivorstand: Selbst Parteilinke wie der Juso-Vorsitzende Sascha Vogt oder Ralf Stegner, Landeschef des Sozialdemokraten in Schleswig-Holstein, werden im ersten Wahlgang abgestraft; wie letzterer müssen fast alle SPD-Landeschefs kleinerer Landesverbände, darunter der Saarländer Heiko Mass und Thüringens Bildungsminister Christoph Matschie, auf eine Chance im zweiten Wahlgang hoffen. Allgemeines Raunen und aufgeregtes Gemurmel – die ZEIT wird angesichts der Wahlergebnisse später von einer „krawalligen Stimmung“ in der Leipziger Messehalle sprechen. Der Vorsitzende persönlich sieht sich gezwungen, ans Mikro zu treten und den Delegierten ins Gewissen zu reden. Der Parteitag wird unterbrochen, damit die Delegieren sich ‚beraten’ können, so Gabriel.

Ohrfeigen und Theater, politisch und sportlich

Im zweiten Versuch wird der Parteivorstand dann zwar standesgemäß aufgefüllt. Doch von einem „Warnschuss“ ist allüberall die Rede. Die Süddeutsche Zeitung fasst später sehr bildhaft zusammen: „Ins Kreuz getreten statt den Rücken gestärkt“.

Am Rande des Parteitages trafen wir einen frisch gebackenen Bundestagsabgeordneten, der sich damit auskennt, in großen Hallen Ohrfeigen zu kassieren und „ins Kreuz getreten“ zu bekommen – im sehr wörtlichen Sinn: Matthias Ilgen vertritt neuerdings den Wahlkreis Husum im Bundestag und war zuvor leidenschaftlicher Hobby-Wrestler und trat als bad guy „Matthias Rüdiger Freiherr von Ilgen“ auf. Wie ihn das rohe Kräftemessen im Ring auf das harte Politikgeschäft vorbereitet hat, verriet uns der 29jährige im Interview:

unique: Herr Ilgen, Wrestling und Politik sind eine sehr spezielle Interessenkonstellation. Wie passt das denn zusammen?
Ilgen: Das eine schließt wie man sieht das andere nicht aus. Politik hat mich schon seit der Schule immer fasziniert. Und Wrestling war immer eine Leidenschaft, erst als Zuschauer, später als Trainierender und Aktiver, und beides hat sich dann weiterentwickelt.

In den Sport-Ausschuss des Bundestages hat es Sie nun aber nicht verschlagen. Weil Wrestling eben in erster Linie einstudiertes Entertainment ist?
Man sollte die sportliche Komponente nicht unterschätzen, die hinter all dem Theater steht. Einerseits ist es natürlich koreographierte Unterhaltung, aber andererseits ist Wrestling ein Hochleistungssport, den man mit American Football vergleichen kann: Die Jungs sind hinterher völlig fertig und sind froh, wenn sie am nächsten Tag wieder ordentlich aus dem Bett aufstehen können. Als Wrestler muss man in der Lage sein, richtig zu fallen, zu springen und natürlich mit einem Gegner zu interagieren, den man mitunter nicht kennt. Dann bespricht man vorher kurz, was abgehen wird, und die restlichen 20 Minuten Publikumsunterhaltung sind dann Improvisation anhand von dem, was man – hoffentlich! – gelernt hat.

War das für Sie jemals eine ernsthafte Berufsperspektive?
Nein, das Wrestling ist nur ein Hobby. Während des Studiums war es eine zeitlang eine Art Nebenberuf, als ich viele Auftritte hatte. Aber man muss da ja realistisch blieben: In Amerika kann man damit genug Geld verdienen, um davon leben zu können; in Europa ist das nur sehr selten so. Ich habe zwar als Kind den Traum gehabt, Wrestler zu werden, aber wenn man es dann wirklich macht, merkt man: Das ist eben auch Arbeit. Und Arbeit macht zwar auch Freude, aber ist nun mal anstrengend. So bekommt man schnell ein ganz anderes Verhältnis dazu. Man ist dadurch auch nicht mehr der große Fan: Ich sehe mir zwar auch heute öfter die Veranstaltungen aus den USA an, aber ich bin nicht mehr so unvoreingenommen – ich schaue auf die Fehler, die die Jungs im Ring machen.

Zurück zur Politik: Werden Sie von den Kollegen im Parlament nicht belächelt für Ihr Hobby?
Nein, da ist eher eine fröhliche Überraschtheit: „Ach, das machst du?“ Ich glaube, die Gesellschaft ist da toleranter als vor 20 Jahren. Viele Eltern, die selbst früher als Jugendliche Wrestling geschaut haben, stehen dem tolerant gegenüber, wenn ihre Kinder sich dafür interessieren. Aber natürlich muss immer wieder betont werden: Das darf man unter keinen Umständen zu Hause nachmachen, denn es ist brandgefährlich; man kann sich alle Knochen dabei brechen! Ich selbst habe Kreuzband- und Miniskus-Riss hinter mir, das ist nicht von Pappe.

Ist Ihr eigentümliches Hobby vielleicht auch von Vorteil für die Arbeit in der Politik?
Ja, auf jeden Fall. Es ist ja phänomenal, wie bekannt ich inzwischen bin, obwohl ich gerade erst in den Bundestag eingezogen bin. Normalerweise stellt man sich ja als neuer Abgeordnetet ganz hinten an, was Bekanntheitsgrad usw. angeht. Bei mir ist das etwas anders: Fernsehsender, Tageszeitung sprechen mich an; das ist hilfreich, denn es öffnet auch Türen – unter anderem zu Journalisten. Diese Redaktionskontakte sind auch für die Arbeit als Abgeordneter wichtig.

Und Sie sind es natürlich gewohnt, mit Zuhörern zu interagieren…
Absolut, ja. Ich habe heute kein Problem damit, vor vielen Menschen eine Rede zu halten. Und da ich im Ring ja immer den bad guy gespielt habe, bin ich auch daran gewöhnt, mit negativen Emotionen vonseiten der Zuschauer umzugehen.

Dann hoffen wir trotzdem mal, dass Sie im Parlament nicht den ‚Bösewicht’ geben müssen…
Nein nein, wir Sozis sind die Guten! (lacht)

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Ilgen!

Matthias Ilgen als MdB (links, Foto: SPD Ortsverein Husum / Andreas Birresborn) und als Wrestler "Freiherr von Ilgen" (rechts, Foto: Karsten Kretschmer)

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