Michel Foucault ließ kein gutes Haar daran: 226 Jahre nach seiner Veröffentlichung liegt Jeremy Benthams Panoptikum auch in deutscher Sprache vor – und animiert zu kritischer Auseinandersetzung.
von LuGr
Unsere Kultur ist inzwischen, nicht zuletzt durch das Medium Film, eine visuelle. An Sehen ohne Gesehen-Werden in einem öffentlichen Gebäude nimmt sie zunächst einmal keinen Anstoß. Sollte sie aber, denn an vielen öffentlichen Plätzen rund um den Globus ist in der einseitigen Beziehung zwischen Beobachter und Beobachteten ein Machtverhältnis begründet: Der Big Brother suggeriert Allgegenwart, kontrolliert den Bürger in seinem Verhalten, ahndet Regelverstöße, erzieht um.
Bereits 1787 hat der britische Philosoph Jeremy Bentham ein Konzept der Überwachung für den Strafvollzug entworfen: Das „Panoptikum“ sollte die Sitten reformieren, öffentliche Ausgaben senken, der Gesundheit einen Dienst erweisen – und das alles „durch eine einfache architektonische Idee“, erklärt sein geistiger Vater. Utilitaristische Überlegungen standen hierbei zwar im Vordergrund, doch die Würde potentieller Insassen, die soziale wie räumliche Isolation aushalten müssten, wurde nicht bedacht.
Benthams Schriften zum „Panoptikum“ liegen nun erstmals in deutscher Übersetzung mit begleitenden Essays vor. Er beschreibt darin eine als Rundbau konzipierte Besserungsanstalt: Um eine Zylinderform im Inneren, auf der die Wachen ihren Platz beziehen, sollte in Ringform ein Gefängnistrakt so eingerichtet sein, dass alle Aktivitäten vom Zylinder aus eingesehen werden können. Gleichzeitig sollte den Häftlingen ein Blick in die Überwachungszentrale verwehrt bleiben. Der Clou dabei: Permanente Überwachung musste gar nicht stattfinden, sie konnte auch nur suggeriert werden. Die Insassen sollten befürchten, ständig den Blicken der Beobachter ausgeliefert zu sein. Bentham stieß als Sozialreformer schon zu Lebzeiten auf Ablehnung, als er erfolglos um die Realisierung „seiner“ Gefängnisse kämpfte und am Widerstand von König George III. scheiterte. Auch über seinen Tod hinaus wurden seine Ideen eher mit Skepsis aufgenommen: Der Soziologe Michel Foucault sah Benthams „Panoptikum“ als Beispiel für entartete Machtstrukturen in der Moderne. Es werde zu einer „Disziplinargewalt der Überwachung“, bei der es nicht mehr um Resozialisierung und Integration von Delinquenten in die Gesellschaft gehe, sondern um die „nutzbringende Abrichtung des Kriminellen“, heißt es in Überwachen und Strafen. Mit dieser Art der Strafe ersetzte das Zeitalter der Aufklärung die der körperlichen Marter des Absolutismus.
Benthams „Inspection House“, das sich beliebig auf andere öffentliche Institutionen wie Schulen, Irren- oder Armenhäuser anwenden ließe, wurde bis heute nicht nach seinen Vorstellungen realisiert. Man muss Benthams Ideen jedoch im Kontext ihrer Entstehungszeit betrachten, die Foucault vernachlässigt. Im Juni 1780 waren die Gefängnisse in England dank drakonischer Strafen bei Gesetzesübertretungen überfüllt; durch Seuchen starben die Häftlinge wie die Fliegen. Die Gordon-Aufstände wollten diese Verhältnisse ändern, wurden jedoch brutal niedergeschlagen. Bis 1787 gab es daraufhin keine nennenswerten Veränderungen im Bestrafungs- und Gefängnissystem. Das brachte Bentham auf seine Ideen von einem Strafvollzug, in dem jeglicher Körperkontakt zwischen den Gefangenen und zu den Aufsehern vermieden wurde – ein eigenwilliger Utilitarismus. Doch versucht Herausgeber Christian Welzbacher im Nachwort, die Fehlinterpretation von Benthams Ideen als eine Utopie zum Aufbau totalitärer Machtstrukturen gerade zu rücken. Durchaus plausibel widerlegt er dabei Foucaults Kritik. Das Missverständnis dieser durch ihre ungebrochene Aktualität längst überfälligen Publikation bringt Welzbacher treffend auf den Punkt: Das „Panoptikum“ sei „ein Meisterstück angewandter, in ihrer Anwendung gescheiterter Philosophie der Aufklärung – ja mehr noch: Symbol für das Scheitern der Aufklärung selbst.“
Leider ist uns durch die gesellschaftliche Entwicklung auch die Fähigkeit zur Reflexion kulturell akzeptierter Perversionen wie der allgegenwärtigen Überwachung abhanden gekommen.
Jeremy Bentham:
Das Panoptikum
Hrsg. von Christian Welzbacher
Matthes & Seitz 2013
221 Seiten
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