Ein japanischer Autor inszeniert einen Thriller in Mitteleuropa. Dabei zeigt er, wie überraschend real Fiktion werden kann und welches Vermächtnis der Kalte Krieg in der Mitte Europas hinterlassen hat.
von gouze
An einem verhängnisvollen Tag im Jahr 1986 vollzieht das Leben des gefeierten Hirnchirurgen Dr. Kenzo Tenma eine dramatische Wendung: Entgegen den Weisungen seiner Vorgesetzten rettet er dem jungen Johan Liebert durch eine Gehirnoperation das Leben. Zu diesem Zeitpunkt ist Tenma von Zweifeln und Schuldgefühlen geplagt, weil er zuvor von der Behandlung eines Türken abgezogen wurde, um einen sozial höhergestellten Patienten zu operieren. Der türkische Mann starb und Tenma begann, nach der Begegnung mit dessen Witwe und Kind, an dem Menschenbild der Klinikleitung zu zweifeln. Was Tenma damals nicht weiß: Johan ist kein normales Kind, sondern das Ergebnis einer perfiden Logik, nach der Menschen zu allem gemacht werden können, auch zu Monstern.
Naoki Urasawa, der „Meister der Spannung“, schrieb und zeichnete den Manga-Thriller Monster der von 1994 bis 2001 in Japan veröffentlicht wurde. Man wundert sich, warum Urasawa seine Geschichte fernab Asiens spielen lässt; das ist jedoch das Steckenpferd des Autors mit dem er in seinen Vorgängerwerken bereits Erfahrungen gesammelt hat. Urasawa gewinnt seine Informationen meist durch intensive Literaturrecherche, ohne „Forschungsaufenthalt“ im jeweiligen Land. Daher überrascht es sehr, mit welcher Detailtreue seine Zeichnungen und Charaktere angefertigt sind. Stadtszenerien aus Düsseldorf und München erwecken beim Leser tatsächlich das Gefühl, in einer deutschen Altstadt zu stehen. Fachwerkhäuser, Kopfsteinpflaster und die korrekte Darstellung deutscher Nummernschilder – die bisweilen nicht einmal in Hollywood gelingt – kreieren zusammen mit adäquat benannten Figuren eine dichte, authentische Geschichte.
Die von Monster aufgegriffenen Themen sind harter Tobak, gerade weil sich die Handlung dicht an die Historie anlehnt und den Grenzverlauf des Kalten Krieges und dessen Nachwirkungen zu einem Thriller verwebt. Für nicht-deutsche Leser ist der Übergang von Realität zu Fiktion wahrscheinlich weniger gut nachvollziehbar – oder einfach uninteressanter. Als hier Beheimateter staunt man allerdings nicht schlecht, wenn DDR-Kinderheime zu Anstalten für die psychologische Umerziehung von Kindern zu „perfekten Soldaten“ werden.
Das von Urasawa gezeichnete Bild Deutschlands liegt nach der Lektüre schwer im Magen. Und das nicht ob der mental aufreibenden Handlung, die in 162 Kapiteln zur fulminanten Vollendung gebracht wird. Was beim deutschen Leser wirklich hängen bleibt, sind die Bilder gut organisierter Neonazis, die in westdeutschen Großstädten ganze Stadtviertel samt ihrer türkischen Bevölkerung niederbrennen und darauf warten, dass der nächste Hitler an ihre Spitze tritt. Die Charakterisierung Deutschlands ist aber auch auf subtilerer Ebene zu finden. Das alles in Gang setzende Schlüsselereignis kann bei der packenden Geschichte schnell vergessen werden: Der für Tenma traumatische Tod des türkischen Mannes. Dieses Ereignis zeigt nicht nur, was den Protagonisten zur Rettung des „Monsters“ trieb, sondern auch, welche Monster über Leben und Tod von Menschen entschieden, die sie als wertvoll erachten oder eben nicht.
Westdeutsche Neonazis, DDR-Kinderheime und omnipräsente Ausländerfeindlichkeit: Man könnte sich beruhigt zurücklehnen und behaupten, dass es sich hierbei nur um die Fiktion eines Japaners handelt, der gesellschaftspolitische Verhältnisse erdichtet, die so niemals eintreffen würden. Diesem Irrglauben könnte man glatt erliegen, wenn nicht die rassistischen Ausschreitungen von Rostock-Lichtenhain und Hoyerswerda in unmittelbarer Nähe zur Schöpfungsphase von Monster liegen würden. Urasawa hat lediglich ausgemalt, was hierzulande schon in Konturen vorgezeichnet war; dass die Geschichte vorerst einen anderen Lauf genommen hat, sollte kein Anlass zur Beruhigung sein. Immerhin ist erst seit der Aufdeckung des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ und seiner Aktivitäten das Bewusstsein für die unterschätzte Bedrohung aus dem braunen Schatten wieder geschärft.
Obwohl Urasawa jenseits seiner Arbeit keinen engeren Bezug zu Deutschland hat und das Geschehen auf dem europäischen Kontinent nur aus der Distanz verfolgen kann, zeugt die Welt, die er in Monster erschaffen hat, von einer beeindruckenden analytischen Weitsicht, die auf ihre ganz eigene Weise erhellend sein kann. Arigatou, Urasawa-san, für diesen diagnostischen Einblick aus der Ferne.
Naoki Urasawa: Monster
Ehapa Comic Collection 2002
in 18 Bänden erschienen
Wer sich dieses vielschichtige Meisterwerk zu Gemüte führen will, dem sei die Lektüre der englischen Übersetzung (von VIZ Media) empfohlen, denn das deutsche Setting wirkt aus einer „fremden“ Perspektive um einiges beeindruckender.
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