Der Roman Die vierzig Tage des Musa Dagh erzählt heldenhaft vom Widerstand der Armenier. Eine Geschichte über Grausamkeit und Unrecht, die eine Brücke zwischen armenischer und jüdischer Tragödie schlägt.
von gouze
Im November 1935 reist der tschechische Jude Franz Werfel zum ersten Mal in die USA. Dort bereitet ihm, zu seiner großen Überraschung, die armenische Diaspora in New York einen stürmischen Empfang, er erhält zahlreiche Einladungen zu Dinner-Veranstaltungen und wird als Idol verehrt. Wenig später spielen sich ähnliche Szenen bei Werfels Reise nach Paris ab. Ein Jahr zuvor erschien Die vierzig Tage des Musa Dagh in Übersetzung und wurde in den USA und in Frankreich zum Publikums- und Kritikererfolg. Damit erfüllte Werfel ein Versprechen, das er sich Jahre zuvor selbst gegeben hatte: das Leid der Armenier dem Vergessen entreißen.
Bereits 1915, während seines Dienstes in der österreichischen Armee, las der junge Schriftsteller in der Zeitung über die Ermordungen und Deportationen der Armenier im Osmanischen Reich. In ihm erwachte der Wunsch, einen Roman über ihr Schicksal zu schreiben. In den darauffolgenden Jahren widmete er sich allerdings anderen schriftstellerischen Tätigkeiten. Bis zu jenem Tag im Jahr 1929, als er in einer Teppichweberei in Damaskus auf armenische Waisenkinder trifft. Überlebende des Völkermordes: verstümmelte und verhungernde Jugendliche, die mit ihren großen leeren Augen vor sich hin starren. Die beklemmenden Eindrücke lassen Werfel nicht mehr los. Noch während der Reise skizziert er einen Romanentwurf. In den folgenden zwei Jahren recherchiert er den Verlauf des Völkermordes, die Kulturgeschichte der Armenier – vom ortsüblichen Dialekt bis hin zur traditionellen Tracht. Dabei geht er mit ungeheurer Akribie ans Werk: Er lässt von Freunden und Bekannten – Historikern, Journalisten und ehemaligen Militärangehörigen – Archive und Quellen sichten und sich Protokolle, Augenzeugenberichte und sogar zeitgenössische Wetteraufzeichnungen zusenden. Er wertet alles aus, um seinen Roman Die vierzig Tage des Musa Dagh möglichst detailliert und wirklichkeitsgetreu verfassen zu können.
„Steckt dahinter eine undurchdringliche Absicht oder nur das undurchdringliche Betriebschaos ottomanischer Militärkanzleien?“
Die Geschichte folgt Gabriel Bagradian, einem Armenier, der die längste Zeit seines Lebens in Frankreich verbracht hat. Zusammen mit Frau und Sohn reist er im Frühjahr 1915 – eigentlich nur für einen kurzen Aufenthalt – in sein Heimatdorf Yoghonoluk, als die Pässe der Armenier eingezogen werden und seine Ausreise vorerst unmöglich gemacht wird. Durch die Fremdheit, die Gabriel bei der Wiederkehr in seine alte Heimat fühlt, und die schrittweise erfolgende Wiederentdeckung seiner armenischen Identität, schildert Werfel ein authentisches Szenario der armenischen Dorfgemeinschaft. Die Bewohner erhalten einen Deportationsbefehl, woraufhin die Gemeinde beschließt, auf den nahe gelegenen Berg Musa Dagh zu ziehen und Widerstand zu leisten. Eine mäßig bewaffnete Gruppe von gut 5.000 Menschen, die meisten von ihnen Kinder und Jugendliche, begibt sich auf den Weg. Der eigentliche Völkermord und die Vorgeschichte der Armenierunterdrückung kommen in einer Nebenepisode zur Sprache, die Situation wird zunehmend bedrohlicher, aber die Lage ist nicht ausweglos. Die vierzig Tage des Musa Dagh basiert auf einer realen Begebenheit, wobei die Widerstandsbewegung eher eine Ausnahme darstellt. Werfel rekonstruiert die Vorgeschichte des Völkermords und die historischen Hintergründe armenischen Lebens im Osmanischen Reich und webt sie so in sein Opus Magnum ein. Werfel pathetisiert und schmückt die Realität wohlwollend dort aus, wo es der Dramaturgie dienlich ist: Das auffälligste Stilmittel ist die förmlich ins Auge springende alttestamentarische Symbolik. Vierzig Tage harren die Armenier auf dem Berg aus, bis sie durch eine nahezu göttliche Fügung errettet werden. Das zeugt davon, dass Werfel mehr als nur eine literarische Nacherzählung der Ereignisse schreiben wollte. Er wollte die Geschichte als ein Heldenepos der Armenier erzählen, die einem großen Publikum die Annäherung an das Thema ermöglicht. Werfel wusste, dass ein Roman, der ausschließlich von Deportation und Todesmarsch der Armenier handelt, kein Interesse bei der Leserschaft geweckt hätte.
„Auf das Verbrechen des Mitleids mit Armeniern stand laut den neuen Gesetzen Bastonade, Gefängnis, und in schweren Fällen der Tod.“
Als die Nationalsozialisten in Deutschland an die Macht kommen, sitzt Werfel noch an der Niederschrift seines Ro-mans. Von den Vorgängen in Deutschland sei er geistig erschöpft, schreibt er seinen Eltern. Er sei sich der Aktualität und der Symbolkraft des Romans bewusst und spüre die damit verbundene Verantwortung auf sich lasten. Der Autor, vollends beschäftigt mit dem Schicksal der Armenier, glaubt nicht, dass in Deutschland viel Schlimmeres geschehen werde. Im Frühling 1933 brennen seine Werke auf den Scheiterhaufen der Nationalsozialisten und Werfel ringt damit, sich bei der Arbeit nicht vom Tagesgeschehen beeinflussen zu lassen. Ein Freund kritisiert das Manuskript, weil armenische Figuren zu eindeutig jüdischen Bekannten der beiden nachempfunden seien. Der Schriftsteller ermahnt sich daraufhin, keinem plumpen Gut-Böse-Denken zu verfallen – am Rand des Manuskripts findet sich die Notiz „Nicht gegen die Türken polemisieren!“. In der finalen Druckfassung der Vierzig Tage des Musa Dagh ist dann auch von türkischen Intellektuellen zu lesen, die die Gräuel des Osmanischen Reiches verurteilen, von türkischen Bauern, die Mitgefühl zeigen und den Armeniern helfen. Werfels Ausbruch aus einfachen Dichotomien trägt letztlich zu einem realistischen, aber auch ernüchternden Menschenbild bei: Selbst in der Widerstandsgemeinschaft auf dem Musa Dagh gibt es keinen bedingungslosen Zusammenhalt, stattdessen gibt es Machtkämpfe und Gehässigkeiten. Werfels Figuren sind auch im Angesicht des Todes menschlich. Auch Gabriel bleibt, bei aller Annäherung an seine armenischen Wurzeln, ein Außenseiter, und ist dem biblischen Moses dadurch umso ähnlicher. Im November 1933 erscheint der Roman in den deutschsprachigen Ländern und wird ein Erfolg bei Publikum und Kritikern; in Deutschland ist das Buch jedoch lediglich zwei Monate lang im Verkauf – dann wird es verboten. Selbst den politisch uninteressierten Lesern müssen die Parallelen zwischen dem Osmanischen Reich und den gegenwärtigen Entwicklungen im Deutschen Reich aufgefallen sein. Gerade jüdische Rezipienten merken an, dass wohl nur ein jüdischer Schriftsteller in der Lage war, die Geschichte der Armenier so zu erzählen. Die nach Palästina ausgewanderte deutsch-jüdische Dichterin Jenny Aloni schreibt 1940 in ihr Tagebuch: „Es ist im Grunde nicht das Armenier-Schicksal – vielleicht auch dieses – welches er beschriebt, sondern unser Schicksal, welches er vorempfunden hat, feinfühlig die leisen Anzeichen der beginnenden Vernichtung spürend und gestaltend.“
„Die ganze Welt war eine rotierende Scheibe und der Musa Dagh der tote, unbewegte Punkt in ihrer Mitte.“
In der westlichen Untergrundbewegung und den jüdischen Ghettos gehört die polnische respektive hebräische Übersetzung von Die vierzig Tage des Musa Dagh zu einem der meistgelesenen Bücher. Als wahrhaftiger Brückenschlag zwischen den Schicksalen beider Völker wird das Werk wahrgenommen. Juden in Ghettos berufen sich explizit auf Werfels Hoffnung stiftendes Heldenepos. Die jüdische Gemeinschaft in Palästina hat gar einen „Musa Dagh Plan“ für die Abwehr im Fall einer deutschen Invasion. Aus heutiger Sicht fällt es schwer, dem Werk keinen prophetischen Charakter zuzusprechen und in der literarischen Schilderung der Ereignisse von 1915 nicht das Antizipieren des Holocaust hineinzudeuten. Die Verwirklichung der Judenvernichtung kann man aber auch als kollektives Versagen der Weltgemeinschaft betrachten. Wurde doch geschildert, dass ein Massenmord in so unvorstellbarer Größenordnung möglich ist und ein solches Verbrechen auch nicht aus heiterem Himmel kommt. Dass der Wandel des politischen Klimas sich über Jahre hinweg ankündigt, bevor er in die Katastrophe mündet. Der Holocaust ist nicht der erste Völkermord im 20. Jahrhundert, es ist der erste, den man geschehen ließ, nachdem das Armenier-Schicksal zurück in das Kollektivbewusstsein geholt wurde. Es ist das Versagen, die Warnzeichen zu übersehen, die fast ein Jahrzehnt vor der Wannseekonferenz zu leuchten begannen.
Die vierzig Tage des Musa Dagh scheint aus dem Kanon der literarischen Völkermord-Verarbeitung herausgefallen zu sein. Wer erinnert sich heute noch an Franz Werfel? Trotz der mahnenden Daueraktualität, die der Roman seit seiner Veröffentlichung vor 82 Jahren hat, ist er in der deutschen Literatur in die Bedeutungslosigkeit abgedriftet. Eine Gedenktafel für den Autor ziert das Zizernakaberd-Mahnmal in Jerewan. 2006 wurde dem gebürtigen Prager posthum die Ehrenbürgerschaft Armeniens verliehen. Sogar als „Homer des armenischen Volkes“, der dem ältesten Christenvolk ein Nationalepos geschenkt hat, wurde er bezeichnet. Die Verehrung und Lobpreisung mag aus westlicher Perspektive etwas befremdlich wirken, aber für die Menschen in Armenien und die armenische Diaspora ist ein Vergessen Werfels oder seines Romans undenkbar. Der armenische Historiker Kevork Hintlian fasste die Bedeutung Werfels einmal zusammen: „Sein Werk garantiert – und das wird Ihnen jeder Armenier auf der Welt, ob in Los Angeles, in Paris, ob in Beirut oder Venedig bestätigen – es garantiert, dass niemand vergessen wird, was unserem Volk geschehen ist!“
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