Bilder treffen uns oft mehr, als es Worte tun können. Sie bleiben im Gedächtnis, selbst wenn wir die Fakten längst vergessen haben. Auch deswegen sind Fotografien aus den Lagern des NS-Regimes wichtige Zeitdokumente. Wir sprechen mit Hildegard Frübis über Beweissicherung und ästhetische Praxis.
unique: Frau Dr. Frübis, Sie schreiben in der Einleitung des Buches, die Analyse der Fotos aus den Lagern stehe „noch immer vor großen Herausforderungen“ – wieso ist das, so viele Jahre nach 1945, noch immer problematisch?
Hildegard Frübis: Das hängt ganz grundsätzlich damit zusammen, dass dieses Genre von fotografischen Bildern – im Fachbegriff die „dokumentarische Fotografie“ – per se ein höchst komplexes Gebilde ist, dass zu seiner Entschlüsselung sowohl das Wissen von Bildhistoriker*innen wie Historiker*innen benötigt. Damit diese Fotografien zu aussagekräftigen Bild-Dokumenten werden – will man sich nicht zum „verlängerten“ Agenten der NS-Propaganda machen, wofür beispielsweise das sogenannte „Ausschwitz-Album“ oder das „Höcker-Album“ stehen – muss man nicht nur genau hinschauen, sondern die Fotografien untereinander abgleichen – damit z.B. deutlich wird, dass sie „Auslassungen“ enthalten und/oder in ihrer Aufnahmeperspektive durch die Intention des Fotografen bzw. der Institution bestimmt sind. Bilder – ob Fotografie oder Gemälde – stehen grundsätzlich nie außerhalb von Zeit und Raum; selbst das vorgeblich „reine Sehen“ nicht, und will man sie zum Sprechen bringen, muss man zum einen genau hinschauen und zum anderen das Gesehene immer wieder mit anderen Informationen, wie historischen Quellen, Augenzeugenberichten, Briefen etc. konfrontieren und in Bezug setzen. Dass Bilder wie Texte immer nur ‚Momente der Wahrheit’ enthalten, hat allerdings auch schon Hannah Arendt in ihren Beobachtungen zu den Aussagen im ‚Auschwitz-Prozess’ konstatiert.
Darüber hinaus, so mein Eindruck, haben die Historiker*innen alle Genres von Bildlichkeiten lange abgelehnt, denn sie haben – unausgesprochen – Bilder als etwas rein subjektiv-verfasstes wahrgenommen. Nur das schriftlich Verfasste galt als Quelle der „historischen Wahrheit“, so mein Eindruck. Der „Doppelcharakter“ des fotografischen Bildes – die Gleichzeitigkeit von historischem Dokument und dessen Interpretation – war für die Vorstellung einer „objektiven Geschichtsschreibung“ etwas höchst „Verdächtiges“. Allerdings muss ich auch hinzufügen, dass lange Zeit eine höchst naive Benutzung von historischen Fotografien praktiziert wurde – meist von Nicht-Bildhistoriker*innen.
Auch in dem Buch wird darauf verwiesen, dass Fotografien natürlich immer nur einen Ausschnitt der Wirklichkeit abbilden. Öffnet man aber damit nicht auch den Relativierungsbemühungen gewisser Akteure Tür und Tor?
Ich kann nur an die oben gemachten Ausführungen anschließen bzw. dies geschieht nur dann, wenn man die Fotografien „sich selbst überlässt“ und der naiven Einstellung folgt, dass Bilder für sich selbst sprechen und für die Wahrheit stehen. Dabei würde man einem Idealismus folgen, wie er im 18. bzw. 19. Jahrhundert noch gepredigt wurde. Abgesehen von den fotografischen Bildern: Jede Textquelle braucht ihre Auslegung, Interpretation und Kontextualisierung. Gerade der Nationalsozialismus ist doch dafür bekannt, dass er auch eine NS-Sprache „eingeübt“ hat, die die Verbrechen nicht unmittelbar wahrnehmbar machen sollte – selbst in den NS-Dokumenten, wie sich an Begriffen wie ‚Endlösung‘ oder ‘unnatürliche Todesfälle‘ zeigt.
Unmittelbar nach der Befreiung der Lager sei das „Re-enactment“ gängige Praxis gewesen. Was darf man sich als Laie darunter vorstellen – und was bedeutet das für die Fotos, die wir heute beispielsweise in Gedenkstätten oder Büchern sehen?
Re-enactment heißt so viel wie „nachgestellte Bilder“. Damit wurde das Terrorsystem der SS in den Konzentrationslagern – häufig extreme Strafpraxen – nach der Befreiung durch ehemalige Häftlinge für die Alliierten „aufgeführt“, um diesen die Strafpraxen anschaulich vor Augen zu stellen, etwa das „Baumhängen“ im KZ Buchenwald. Die Fotografien der „Re-enactments“ wurden somit auch für die Dokumentation der Verbrechen notwendig und um eine Beweislage für die NS-Prozesse herzustellen. Die Praxis der „Re-enactments“ war wiederum eine Folge des NS-Systems bzw. hängt ursächlich, möchte ich behaupten, mit den Strukturen des Nationalsozialismus zusammen. Damit meine ich die das NS-System charakterisierende Eigenschaft, Zeugen und Dokumente der eigenen Taten weitestgehend zu zerstören – siehe die Versuche, die Lager selbst noch in den letzten Kriegstagen zu evakuieren und die Einrichtungen zu zerstören, bis zu den Verbrennungsöfen in Auschwitz und nicht zuletzt der Versuch, keine Fotografien und Textdokumente zu hinterlassen.
Tatsächlich waren die Nationalsozialisten ja gegen Ende des Krieges bestrebt, Beweise für ihre Verbrechen zu vernichten. Kann man sagen, dass sich die Verteilung der Foto-„Urheberschaft“ zwischen Tätern und Opfern ab einem bestimmten Punkt gewandelt hat?
Zahlen kenne ich nicht genau. Aber soweit ich weiß, spricht man davon, dass nur ein Bruchteil der von den Tätern gemachten Fotografien erhalten geblieben sind – eben durch das erwähnte Vorgehen der Vernichtungen der Beweise. Von einem grundsätzlichen „Wandel“ – wenn damit das Mengen-Verhältnis von Täter- und Opferfotografien gemeint ist – würde ich nicht sprechen. Für die Häftlinge in den Lagern war es extrem schwer, zu fotografieren – dazu gehörte als erstes, an einen Fotoapparat zu kommen, dann unbeobachtet fotografieren zu können bzw. an die Orte des Verbrechens mit einem Fotoapparat vorzudringen und dann diese Fotografien aus den Lagern herauszubekommen. Von daher steht den Täter-Fotografien, trotz aller Bemühungen, diese zu zerstören, sicher eine viel kleinere Menge an „Fotografien“ gegenüber, die im Lager und von den Häftlingen selbst gemacht wurden – auch wenn immer wieder erstaunlich ist, wie viele Fotografien dennoch entstanden. Wobei noch einmal unterschieden werden muss zwischen den Ghettos und den Lagern.
Waren sich die nationalsozialistischen Urheber der Fotos darüber im Klaren, welchen umfangreichen „Beweiswert“ sie durch ihre zahlreichen Aufnahmen in den Lagern erschaffen?
Dass den Nationalsozialisten die Beweiskraft der Fotos bewusst war, lässt sich schon daraus schließen, dass sie genaue Regularien für den Einsatz der Fotografie festlegten. Bestens bekannt sind die Verbote im Konzentrationslager zu fotografieren – auch für die Angehörigen der SS. Das Wissen bzw. Vermuten über die Beweiskraft der Fotografie bedeutet jedoch nicht, dass die Nationalsozialisten ein Unrechtsverständnis gegenüber dem eigenen Tun und Handeln hatten. Sowohl Textdokumente wie auch Fotografien wurden unter Verschluss gehalten, damit sie nicht den „Feinden“ des Regimes in die Hände fallen sollten – insoweit waren die Institutionen des Nationalsozialismus durchaus moderne Akteure hinsichtlich Bild und Wort. Sie wussten, dass jedes Dokument – Bild oder Wort – in verschiedene bis gegensätzliche Kontexte eingesetzt werden konnte bzw. manipulierbar war. Dies bediente ja auch die NS-Propaganda selbst bestens seit den ersten Tagen des Regimes in denen von ihr herausgegebenen Publikationen, Tagespresse, illustrierte Zeitschriften etc.
Sehen Sie gravierende Unterschiede in der Nutzung der verschiedenen Foto-Gattungen in der Museums- und Erinnerungspraxis? Etwa zwischen Gedenkstätten in Deutschland. und Osteuropa, oder verglichen mit den USA.
Ja sicher. Das zeigt auch noch einmal deutlich, was Kontextualisierung heißt. Jeder dieser Staaten hat einen anderen Blick auf die Geschichte wie die Auswirkungen des Nationalsozialismus – auch bedingt durch die Verschiedenheit der Geschichte selbst. Osteuropa wurde zum größten „Einsatzort“ der Verbrechen des Krieges wie der Konzentrationslager, die USA sind nicht unmittelbar „Objekt“ der Verbrechen, sondern treten als Gegner des NS-Regimes in den Krieg ein und werden zu den „Befreiern“. Dies zeigte sich schon sehr prominent hinsichtlich der Unterschiedlichkeit der Erinnerungspolitik wie der Mahnmale in Deutschland, Osteuropa und den USA.
Ein wichtiger Aspekt in dem Buch ist der „Doppelcharakter“ der Fotografien (darstellend-beschreibend vs. perfomativ). Was bedeutet das ganz praktisch für heutige Betrachter, beispielsweise eine Schulklasse beim Besuch einer KZ-Gedenkstätte?
Das heißt, dass man Bilder – wie letztlich jedes andere Medium oder Dokument – nicht „für sich selbst sprechen lassen kann“, wie schon anfangs ausgeführt. Konkret und praktisch heißt dies, dass Ausstellungen in Gedenkstätten wie auch im Museum die Aufgabe haben, die Kontexte zu den Bildern zu liefern – statt Fotografien, wie lange geschehen, lediglich zur „Untermalung“ in den Ausstellungen zu nutzen, ohne genaue Angaben zu Herkunft, Ort, Fotograf. Weder Fotografien noch andere Objekte/Artefakte sprechen für sich alleine oder besitzen – alleine aus sich – die ganze Wahrheit. Um Hannah Arendt noch einmal aufzunehmen – man hat immer nur „Momente der Wahrheit“.
Haben Sie vielen Dank, Frau Dr. Frübis.
Dr. Hildegard Frübis ist Privatdozentin am Institut für Kunst- und Bildgeschichte der HU Berlin. Sie ist Mitherausgeberin des Sammelbandes „Fotografien aus den Lagern des NS-Regimes: Beweissicherung und ästhetische Praxis“, der im Böhlau-Verlag erschienen ist.
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