Genauso wenig wie Europa oder Deutschland ist Jena eine abgeschlossene Insel – zum Glück. Spätestens seit das Integrationskonzept verabschiedet wurde, gehört Vielfalt zum Selbstverständnis der Stadt. Wie aber wird dieses Bild umgesetzt? Eine Bestandsaufnahme.
von Caro, Frank, Martin & Das Tier
Frankfurt, München, Berlin: Freilich kann Jena sich nicht mit diesen Städten messen – schon gar nicht, wenn es um die Internationalität der Bevölkerung geht. In den letzten 15 Jahren hat sich der Anteil ausländischer Mitbürger in Jena allerdings fast verdoppelt. 2011 lag er mit rund 4,5 Prozent zwar noch klar unter dem der meisten westdeutschen Städte, aber immerhin deutlich über dem Thüringer Durchschnitt. „Derzeit leben gut 4.600 Ausländer in Jena“, berichtet Dörthe Thiele, Beauftragte für Migration und Integration der Stadt. „Zählt man die Menschen mit Migrationshintergrund hinzu, kommt man auf etwa 8.600 Personen.“
Trotz dieser vergleichsweise geringen Zahlen ist es seit langem Konsens im Jenaer Stadtrat, dass die Stelle einer Integrationsbeauftragten unverzichtbar ist – zumal Thiele sich auch als Ansprechpartnerin für die einheimische Bevölkerung versteht: „die Wünsche, Ängste und Sorgen auf beiden Seiten“ wolle sie kennen. Auch das Integrationskonzept der Stadt aus dem Jahr 2008 schreibt ihr eine strategische Verantwortung zu. Es enthält Zielvorgaben für die Jenaer Migrationspolitik; viele davon sollten bis 2012 umgesetzt werden. „In einigen Bereichen sind wir mit der Zielerreichung sehr zufrieden. In anderen besteht aber noch Handlungsbedarf“, räumt Thiele ein. Mit dem Thema Integration seien in Jena mittlerweile neben Vereinen und Initiativen auch eine Vielzahl städtischer Behörden befasst: „Wir wollten weg von der Idee: ‚Alles was mit Ausländern zu tun hat, gehört zur Integrationsbeauftragten’“, erklärt Thiele. „Die Zuständigkeit – und auch das nötige Geld – soll dort verankert werden, wo es hingehört. Die einzelnen Bereiche wissen am besten, was gebraucht wird.“ Auch wenn sich das Budget, über das Thiele zur Unterstützung von Integrationsmaßnahmen und Migrantenvereinen verfügt, seit 2008 fast verdoppelt hat, liegen weitere Gelder in anderen Budget-Töpfen, etwa im Sozialdezernat, wo u.a. die Sprachförderung für Migranten angesiedelt ist.
Kompetenzen und Illusionen
„Sprache ist der Schlüssel zur Integration“, meint Thiele. Darum liegt in Jena besonderes Gewicht auf der Sprachförderung. Um eine weitgehend ungehinderte Integration zu ermöglichen, sollte diese so früh wie möglich einsetzen. In Thüringen stellt die Kindersprachbrücke Jena e.V. das einzige umfassende Projekt zur unterrichtsbegleitenden Sprachförderung von Kindern mit nicht-deutscher Muttersprache dar, das von städtischer Seite gefördert wird. „Für neu zugewanderte Kinder übernimmt das Land Thüringen eigentliche keine Verantwortung. Die vorgesehenen Förderungen sind völlig unzureichend oder finden gar nicht statt. Und damit ist Thüringen auch Schlusslicht im Bundesvergleich“, erklärt Wolfgang Volkmer, Leiter der Kindersprachbrücke. 2002 aufgrund des Hilferufs einer Schule gegründet, fördert der Verein den spielerisch-kreativen Umgang von Kindern mit und ohne „Migrationshintergrund“ mit der deutschen Sprache. Dabei sind die Projekte der Kindersprachbrücke Zusatzangebote, die in Zusammenarbeit mit den Schulen durchgeführt werden. Innerhalb des regulären Unterrichts ist hierfür bisher kein Platz: „Man kann das nicht im Unterricht nebenbei machen. Das ist eine völlige Illusion“, so Volkmer. Die meisten Lehrer sind für die spezielle Sprachförderung von Kindern Zugewanderter nicht ausgebildet; entsprechende Weiterbildungen sind nicht verbindlich. Dagegen sind die ehrenamtlichen Mitarbeiter der Kindersprachbrücke, als Studenten und Absolventen des Studienganges Deutsch als Zweitsprache (DaZ), zwar für die Anforderungen der Sprachförderung von Kindern speziell qualifiziert, zur Ausübung des Lehrerberufs jedoch nicht berechtigt. Volkmer sieht nicht zuletzt die Universitäten in der Verantwortung, den veränderten Bedürfnissen der Schulen Rechnung zu tragen, indem sie die pädagogische Ausrichtung von DaZ und deren Anerkennung bei den Kultusministerien vorantreiben.
Jugendliche und Erwachsene können sich beim Erlernen der deutschen Sprache vom Institut für Interkulturelle Kommunikation (IIK) oder der AWO unterstützen lassen. Beide bieten Kurse an, die mit Zertifikaten für Kompetenzstufen abschließen. Diese werden von staatlicher Seite bis zum Niveau B1 gefördert, dem für die Einbürgerung erforderlichen Sprachniveau.
Selbst mit ausreichenden Deutschkenntnissen ist es jedoch nicht immer leicht für Migranten und Ausländer in Jena, Arbeit zu finden. Sogar qualifizierte Fachkräfte sehen sich mit Problemen konfrontiert, da ausländische Abschlüsse nicht zwingend in vollem Umfang anerkannt werden. So kommt es zu Abstufungen – und aus einem Master wird ein Bachelor. Zur Anerkennung ausländischer Bildungsabschlüsse berät kostenfrei die „Clearingstelle Anerkennung Ost“. Zuständig für Ostthüringen, hat sie ihren Sitz in Jena beim Bildungswerk der Thüringer Wirtschaft e. V. (BWTW).
Seit 2011 koordiniert das BWTW außerdem ein deutschlandweit einmaliges Projekt: die Jenaer Job-Mentoren. Sie unterstützen ehrenamtlich ausländische Mentees bei der Suche nach einem Job, einem Praktikum oder einer passenden Weiterbildung. „Wir loten mit unserem Mentee den Bedarf aus und vermitteln Kontakte zu Behörden und Bildungsträgern“, erklärt Lisa Kaufmann. Die 23jährige Erziehungswissenschafts-Studentin ist eine der momentan 16 Job-Mentoren, die ihre Schützlinge auch beim Bewerbungsprozess unterstützen.Im Dschungel von Gesetzten und Vorschriften ist es kein Wunder, dass manche der Zugewanderten bei den ersten Schwierigkeiten auf Ämtern den Mut verlieren. Wie Lisa berichtet, komme es vor, dass manche Mentees Sofortlösungen von den Job-Mentoren erwarten: „Wir unterstützen sie bei ihrem Weg, aber der Wille, sich helfen zu lassen, muss vom Mentee selbst kommen.“ Dennoch sei das Angebot enorm wertvoll: „Jeder, der einmal ein anderes Land bereist hat, weiß, wie viel leichter es ist, sich in der Fremde wohlzufühlen, wenn es Menschen gibt, die einen willkommen heißen“.
Job-Mentoren wie Lisa können helfen, nicht aber die Aufgaben von jenarbeit übernehmen. Denn die Zahlen zur Arbeitslosigkeit in Jena verdeutlichen großen Handlungsbedarf: Lag der Anteil an Ausländern unter den Arbeitslosen im Jahr 2000 bei knapp 2,3 Prozent, ist er bis zum ersten Quartal dieses Jahres auf mehr als das Doppelte angewachsen.
„Wir können nicht vorschreiben, Angebote zu schaffen“
Da viele Migranten, die in Jena neu ankommen, sich gleichzeitig auch auf der Arbeitssuche befinden, gestaltet sich die Suche nach bezahlbarem Wohnraum problematisch. Dass es in Jena nicht einfach ist, eine Wohnung zu finden, ist an sich keine Neuigkeit, jedoch müssen Migranten beim Zugang zum Wohnungsmarkt zusätzliche Barrieren überwinden, wie etwa Verständigungsprobleme. Hinzu kommt der Konkurrenzkampf auf dem Jenaer Wohnungsmarkt, in dem die Migranten bisher nur wenige Unterstützungsangebote erfahren. Zwar bietet die größte Wohnungsgesellschaft der Stadt, jenawohnen, eine auf die Bedürfnisse der Migranten ausgerichtete Beratung an. Doch die Stadtverwaltung hat hier wenig Handlungsspielraum: „Wir können privaten Unternehmen nicht einfach vorschreiben, Angebote für Migranten zu schaffen“, gibt die Integrationsbeauftragte zu bedenken.
Ist eine bezahlbare Wohnung gefunden, sehen sich Zugewanderte mit weiteren Problemen konfrontiert. Gerade im persönlichen Wohnumfeld sind sie häufig Vorurteilen und Diskriminierung ausgesetzt. Problematisch seien vor allem Stereotype und eine Atmosphäre der latenten Feindseligkeit, die sich besonders durch Ausgrenzung bemerkbar machen, weiß Janine Patz von Kokont Jena e.V. zu berichten. Als weitere Herausforderung sieht sie, dass sich die Betroffenen häufig nicht trauen, ihre Probleme zu artikulieren und die zahlreichen Hilfsangebote in Jena wahrzunehmen.
Jena Ost oder Lobeda?
Meist wird die Vorauswahl an Wohnungen durch Angebote und Preise vorstrukturiert. So wohnen über 20 Prozent aller Migranten in Lobeda-West, gefolgt von weiteren Ballungen in Jena Nord, Winzerla und dem Stadtzentrum. Seit dem Jahr 2000 hat sich diese Verteilung auf die Stadtteile nur geringfügig verändert. Soziale Stellung und Einkommensverhältnisse bestimmen zwar stärker als der „Migrationshintergrund“, ob sich die Wohnungssuchenden eher in Jena Ost oder in Lobeda wiederfinden. Jedoch wird im Rahmen der Stadtentwicklung versucht, Angebote in unterschiedlichen Preissegmenten zu schaffen und einer sozialen Entmischung entgegenzuwirken.
Nicht nur mit Blick auf die Wohnsituation betont Jena in seinem Integrationskonzept geteilte Vielfalt statt getrennter Lebenswelten: „Die Stadt Jena versteht sich als tolerante, offene und internationale Stadt […]. Das Bild von Jena in der Welt hängt sehr davon ab, wie wir mit der Welt in Jena umgehen.“ Verwirklicht wird dieses Ziel bisher vor allem von Trägervereinen wie der Kindersprachbrücke, die sich, so deren Leiter Volkmer, „nicht nur als Bildungsdienstleiter der Stadt Jena versteht, sondern den Anspruch hat, sie interkulturell weiterzuentwickeln und zu öffnen“. Darum wirkte der Verein auch bei der Entwicklung des Integrationskonzeptes mit.
Behörden mit Augenmaß
Begleitet und unterstützt werden solche Vereine von der Integrationsbeauftragten. Sie wünscht sich, dass von der Aufnahmegesellschaft stärker auf Migrantenvereine zugegangen wird: „Wir müssen weg von bloß Anlass-bezogenen Begegnungen verschiedener Kulturen.“ Dazu dürfe man nicht bei der Pflege der jeweils eigenen Kultur stehenbleiben, sondern müsse die Attraktivität der Migrantenvereine für Einheimische und umgekehrt erhöhen. Hier sieht Thiele noch dringenden Verbesserungsbedarf.
Auch die Erfahrungen mit städtischen Behörden gestalten sich nicht immer so, wie von den Migranten erhofft: „Manche kommen und möchten von mir etwas anderes hören als von vorherigen Stellen“, erklärt die Integrationsbeauftragte. „So groß ist aber der Ermessensspielraum manchmal nicht – auch bei mir nicht.“ Wichtig sei ihr jedoch vor allem, dass die Behörden die ausländischen Klienten mit Augenmaß behandeln: „Natürlich sollte Gleichbehandlung gelten – aber eben nur dann, wenn auch gleiche Ausgangsbedingungen, gleiche Chancen vorliegen.“
Zur Sensibilisierung der Mitarbeiter in der Stadtverwaltung werden seit 2011 interkulturelle Trainings angeboten, die jedoch nicht verpflichtend sind. Anfang dieses Jahres wurden zudem die Fremdsprachenkenntnisse der Mitarbeiter erhoben. Dabei offenbarten sich ungeahnt viele und vielfältige Fremdsprachenkenntnisse, die in Zukunft für die Arbeit der Verwaltung nutzbar gemacht werden sollen.
Denn auch wenn die Mitarbeit von Personen mit „Migrationshintergrund“ in der Verwaltung und dem Stadtrat angestrebt wird, sind sie bisher vor allem da vertreten, wo die spezifischen Belange von Einwanderern behandelt werden. Dabei wäre es auch Thieles Idealvorstellung, dass Migranten eben nicht nur als solche, sondern auch als Jenaer Bürger sprechen.
Als Vertretung der Jenaer Migranten wurde der „Beirat für Migration und Integration“ (kurz: Integrationsbeirat) geschaffen, der in verschiedenen Gremien und Netzwerken aktiv ist. Mehrmals im Jahr finden Treffen der ehrenamtlichen Beiratsmitglieder mit Oberbürgermeister Schröter statt; im Stadtrat hat der Integrationsbeirat aber lediglich ein Rede- und kein Stimmrecht. Ein größeres Problem ist allerdings die geringe Bekanntheit und die demokratische Legitimation des Beirats: So gaben in einer Befragung des ORBIT-Instituts, die 2011 im Auftrag der Stadt durchgeführt wurde, nur 17 Prozent der Teilnehmer an, den Beirat zu kennen. Das schlägt sich auch in der geringen Wahlbeteiligung nieder. Die dürfte jedoch auch dem Umstand geschuldet sein, dass man sich erst als Wähler registrieren muss und es nicht in allen Ortsteilen Wahlbüros gibt.
Mithilfe der ORBIT-Studie wurde auch versucht, die Wirksamkeit der bisherigen Integrationsbemühungen zu überprüfen: 87 Prozent der Befragten gaben an, sich in Jena wohl zu fühlen. Für über die Hälfte ist Jena sogar eine neue Heimat geworden, während nur 3,4 Prozent angaben, sich in Jena nicht wohl zu fühlen. Die Studie erreichte allerdings nur „artikulationsstarke“ Teilnehmer, weshalb das Ergebnis kaum für alle Migranten in Jena gelten kann.
Neue Protagonisten
Trotz aller Wertschätzung für die bisherigen Integrationsbemühungen: Auch das Miteinander muss sich weiterentwickeln. „Was sich vor allem ändern muss, ist der Umgang der Bevölkerung mit ‚Fremden‘“, urteilt etwa Diakonie-Asylverfahrensberaterin Sabine Djimakong. „Ein Mensch kommt an, wenn er willkommen ist. Und das ist nicht nur eine Frage der Unterbringung, sondern hängt vor allem davon ab, ob er von der Gemeinschaft auch aufgenommen wird.“ Mit der breiten Aufstellung tätiger Vereine und der intensiven Sprachförderung habe Jena jedoch einen „guten Boden“ für Begegnungen und die Entwicklung persönlicher Bindungen.
Das Angebot unterstützender Projekte und Ansprechpartner in Jena wird zunehmend unübersichtlicher – ein Umstand, der positiv von einem gesteigerten Interesse in der Stadt zeugt. Doch das allein garantiert noch keine gelungene Eingliederung von Zugewanderten, ihre eigentliche Ankunft in der Stadt. Im Bereich Bildung wurden die meisten der im Integrationskonzept formulierten Handlungsziele bereits umgesetzt. Andererseits zeichnen sich im Bereich Wohnen – in Anbetracht der Wohnraumsituation – kaum Verbesserungen ab. Dies ist nur ein Bereich, in dem sich zeigt, wie begrenzt die Einflussmöglichkeiten einer kommunalen Verwaltung auf manche Akteure oder Regelungen ist.
Eine neue Strategie, um zur Förderung von Integration verschiedene Protagonisten zusammenzubringen, stellt das Jenaer Integrationsbündnis dar, das im April 2012 gegründet wurde. Es ist ein Zusammenschluss verschiedener Institutionen, Unternehmen und Vereine auf freiwilliger Basis, unter dem gemeinsamen Wert der Anerkennung und Gestaltung der vielzitierten Jenaer Vielfalt. In vier Arbeitskreisen verständigen sich unter anderem die Stadtverwaltung, die Bürgerstiftung und die AWO mit der SCHOTT Jena GmbH und dem Max-Planck-Institut, um „eine Verbesserung des Miteinanders von Einheimischen und Zugewanderten“ zu befördern. So ist das Bündnis ein weiterer Schritt hin zu einem Verständnis von Integration, das diese als Prozess versteht, der Bemühungen auf beiden Seiten voraussetzt. Ein Ergebnis daraus könnte es sein, scheinbar unzugängliche Strukturen, wie die Situation am Arbeits- oder Wohnungsmarkt, aufzubrechen. Immerhin liegt auf Seiten der Verwaltung sowie der Vereinsarbeit kein Angebots-Defizit vor.
Eine Rednerin brachte es im Rahmen der diesjährigen Interkulturellen Woche gegenüber den anwesenden Migranten auf die einfache Formel: „Sie sind in Jena willkommen – wir arbeiten nur noch daran, dass Sie es auch merken.“
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