Mit den Augen der Kunst

Kunst und Kultur stellen eine Fluchtmöglichkeit aus dem stressigen Alltag dar. Und je nachdem, wo man sich befindet, können sie die Welt, die nicht die eigene ist, greifbar machen. So, wie im seit Jahrzehnten besetzten Gaza. Dort sorgt Kunst dafür, dass die Menschen sich einem Gefühl der Abgeschlossenheit entziehen können. Kunst von außerhalb der Besatzung bringt den Palästinenser:innen die Möglichkeit, sich mit einer Welt außerhalb der eigenen Grenzen auseinanderzusetzen. Sie werden weltoffener und übernehmen zum Teil westliche Traditionen in ihr eigenes Leben. Das und Weiteres erfahre ich von meiner Interviewpartnerin, Amal Saqer.

von Andy Eckardt


Ich lerne Amal über eine gemeinsame Freundin kennen. Wir treffen uns an einem Freitagnachmittag in einem Zoom-Call. Sie arbeitet gerade in der Nähe von Freiburg und nutzt ihre Pause für das Interview. Mir wurde vorher bereits gesagt, sie freue sich, ein Interview geben zu dürfen. Die Berichterstattung aus und über Gaza, ihrer früheren Heimat, ist stockend. Gerade über Kunst und Kultur erfahre ich aus den deutschen Medien nichts. Ich greife für meine Recherche also auf englischsprachige Medien zurück. Aber zunächst soll es um Amal gehen. Amal Saqer ist 24 Jahre alt und lebt seit drei Jahren in Deutschland. Vorher hat sie in Gaza gelebt und war dort als Künstlerin aktiv. Im Gespräch verrät sie mir, ihr Geld als Freelancerin verdient zu haben, als Content Writer. Das Freelancing sei für viele Menschen in Gaza eine Möglichkeit, Geld zu verdienen, da auf einem derart eingeschränkten Gebiet wie in Gaza die Beschäftigungsmöglichkeiten naturgemäß begrenzt sind. Amal hat mit dem Schreiben schon während der Schulzeit angefangen und seitdem zwei Phasen durchgemacht, in denen sie nicht schreiben konnte. Die erste infolge der Kriege in den Jahren 2008/2009 und 2012. All der persönliche und kollektive Schmerz überwältigte sie, besonders auch, dass binnen einer Woche nach der Gewalt das alltägliche Leben wieder aufgenommen wurde. Die zweite dieser Phasen ereignete sich kurz nach ihrer Ankunft in Deutschland aufgrund einer Depression. Angefangen hat sie dann wieder im letzten Herbst, mit dem Beginn des jüngsten Hamas-Israel-Krieges.

Wachstum trotz Prekariat

Ihrer Aussage nach, sieht die Lebensrealität in Gaza so aus, dass es entweder Krieg gibt oder eben nicht. Krieg sei wie der Eintritt in eine andere Dimension, danach gehe der Alltag weiter. Und zu diesem Alltag gehört eben auch Kunst und Kultur, ein Bereich, der in den letzten Jahrzehnten Repressionen ausgesetzt war. So war Kunst sogar teilweise verboten, zum Beispiel durften eine Zeit lang keine Gesichter gemalt werden. Tatsächlich berichtet Amal mir aber davon, dass die Kunst trotzdem nicht unterbunden werden konnte und die Kunstszene seit Jahren sogar floriere. Sie erzählt von jungen Künstler:innen, die sich zu Gruppen zusammenschließen und gemeinsam Kunst machen. Eine dieser Gruppen ist die Gaza Poetry Society, bei der sie Mitglied war, eine andere die Association for Free Thought and Culture, ein Ort für Kinder und junge Menschen, die zusammenkommen, um Kunst zu lernen und zu erschaffen. Die Association hat Ausstellungen, Galerien und Veranstaltungen organisiert, und sie haben Musik gemacht. Während Kunst und Kultur schon in Ländern wie Deutschland finanziell keine sicheren Bereiche sind, ist es in Gaza nochmal schlimmer. Förderung kommt, berichtet Amal mir, auch aus dem Ausland. So wurde die Poetry Society unter anderem von einem britischen Spender finanziert. Aber auch in Gaza ist Kunst als Profession möglich. So war Amals Freundin nicht nur Mitglied am Edward Said National Conservatory of Music, sondern arbeitete auch als Sängerin und spielte Gitarre. Ihre Mutter, die früher als Opernsängerin sogar in Russland aufgetreten war, sei die einzige Klavierlehrerin in ganz Gaza gewesen. Auf der anderen Seite gibt es aber auch die Abhängigkeit der Kunst von den materiellen Ressourcen. Leinwände sind teuer, Farben und Pinsel ebenfalls. Bildende Künstler:innen müssen sich daher manchmal alternative Leinwände suchen. Sie nutzen also alles, was sie so finden können. Sei es Sand oder Kaffee, um Kunstwerke zu kreieren. Kunst mit Kaffee war in den Jahren zwischen 2014 und 2020 äußerst beliebt. Und spätestens mit der Ankunft von Digital Art, wurde es für die Kunstszene einfacher.

Kunst ist immer politisch

Ich frage Amal auch danach, als wie politisch sie Kunst, besonders in Gaza, bewertet. Sie erklärt mir, dass Kunst immer politisch sei, vor allem für die Menschen in Gaza. Eine ähnliche Aussage lese ich auch in einem Artikel über Mohammed al-Hawajri, einem palästinensischen Künstler. Ursprünglich hat er seine Kunstwerke als unpolitischen Zufluchtsort für die Menschen betrachtet. Mittlerweile ist er von dem Gedanken abgewichen, etwas Unpolitisches in Gaza schaffen zu können. Schließlich sei dort alles politisch. Also sei es auch seine Kunst. Er wolle in seiner Kunst sein Leben als Mensch ausdrücken, ein Leben, das im hochpolitischen Gaza gelebt wird. Und damit seien auch seine Erfahrungen politisch. Und mit der politischen Natur der Kunst kommt den Künstler:innen eine ganz besondere Aufgabe zu. Ihre Kunst berichtet, ihre Kunst bewertet, ihre Kunst zeigt auf und erinnert. Kaum etwas dürfte so gnadenlos ehrlich mit der Welt sein, wie Kunst. Sei es in Zeiten der Zensur, wenn Künstler:innen Wege finden, ihre Botschaften auszudrücken und ihre Kämpfe und ihre Kritik für die Nachwelt festzuhalten. Oder sei es zu Zeiten, in denen Kunst frei ist. Künstler:innen legen Zeugnis in der Welt ab, sie verarbeiten, was sie in ihrem Leben wahrnehmen und verwandeln es in ihre Werke. Sie schaffen etwas Neues, das doch gänzlich das Alte wiedergeben kann. Und in Palästina versuchen Künstler:innen, dieses Schaffen fortzuführen. Und doch ist es schwierig. Mohammed al-Hawajri erklärt, dass Kunst Freiheit brauche, und die sei in Palästina nicht gegeben – florierende Kunstszene hin oder her. Denn sein Umfeld unterstützt Kunst nicht. Aber anstatt sich davon unterkriegen zu lassen, nutzt er das Leben und seine Erfahrungen, seine Kunst zum Dialog mit der Welt zu verwenden. Als Bote von humanitären Problemen, die angesprochen werden müssen. Er selbst geht mit dem Problem der Ressourcenknappheit ebenfalls kreativ um. Er verwendet Tierknochen. Diese Skulpturen werden nicht nur in Gaza bewundert. Eine von ihnen hat es 2009 sogar in das Institut der arabischen Welt in Paris geschafft. Aber wie groß die Strahlkraft und die Macht von Kunst ist, zeigt sich an der Geschichte zweier Löwenjungen, die von einer Familie aufgenommen worden sind, nachdem der Zoo in Gaza durch einen Luftangriff zerstört worden ist. Ein Vater hat sich herumstreunenden Tiere angenommen und sie mit der Familie aufgezogen. Als sie zu groß geworden sind und mehr Fleisch brauchten, sind die jugendlichen Kinder des Mannes mit ihnen durch die Stadt gegangen und haben Fotos mit den Tieren gegen Geld angeboten. Mohammed al-Hawajri hat daraufhin ein Bild der Jugendlichen und der Löwen gemalt, das sich über Social Media verbreitete. Daraufhin startete eine schwedische Organisation eine Rettungsaktion für die Löwen.

Kunst ist immer real

Es ist etwas, das sich in der Arbeit verschiedener Künstler:innen widerspiegelt, die Wiedergabe oder Verarbeitung der Lage in Palästina. Entweder schaffen sie einen Blick auf die aktuelle Lage und das Leben der Menschen oder sie nutzen ihre Kunst als Ventil, um mit all dem Leid umzugehen. So sieht es Heba Zagout, eine palästinensische Malerin, die bei einem Luftangriff in Gaza ums Leben gekommen ist. Sie hat ihre Kunst als Medium betrachtet, mit dem Nachrichten aus ihrer ganz persönlichen Welt in die Welt draußen übermittelt werden kann.
Und diese Art, Nachrichten zu senden, ist es, die Kunst so bedeutsam macht. Fast nichts gibt die Realität eines einzelnen Menschen so akkurat wieder, wie ihre Kunstwerke. In ihnen vereint sich der Wunsch, gehört und gesehen zu werden, während sie gleichzeitig in die Lage versetzen, sehen zu können. Und zwar das, was die Künstler:innen erleben oder erlebt haben.
Heba Zagout ist nur eine von unzähligen Künstler:innen, die den Angriffen zum Opfer fallen und die sich davor fortwährend in ihrer Kunst für Frieden eingesetzt haben. Ihre Kunstwerke sind Aufrufe zur Verständigung gewesen. Ihre Bilder zeigen palästinensische Frauen, die Tauben halten, aber auch Kirchen und Moscheen.
Sowohl Kunst als auch Kultur haben die Aufgabe, Heimat und Identität zu schaffen. Sie erinnern daran, was geschieht, versuchen eine bessere Welt zu zeigen und bieten den Menschen Schutz, Geborgenheit und Zuflucht. Aber noch wichtiger ist der einzigartige Blick, den Kunst auf Ereignisse ermöglicht. Wo sonst findet sich eine so genaue Darstellung, der Gefühle und Gedanken, die die Menschen in Palästina verbindet? Und so ähnlich ist auch Amals Antrieb, Künstlerin zu sein. Sie schreibt nicht, um der Situation zu entkommen oder um der Realität zu entfliehen. Im Gegenteil: In ihrer Literatur setzt sie sich mit der Realität auseinander und versucht, diese zu verarbeiten.


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