Im April 2014 jährte sich der Sturz der Diktatur des Estado Novo zum vierzigsten Mal. Doch die Erinnerung in Portugal ist geprägt von politischen Entscheidungen.
von Babs
Im Jahr 1945 endete nicht nur der Zweite Weltkrieg, sondern auch die faschistischen Diktaturen in Deutschland und Italien. Dieser Wandel erreichte die Iberische Halbinsel nicht: Der Franquismus in Spanien endete erst dreißig Jahre später mit dem Tod des Diktators. Portugals Befreiungsschlag war der 25. April 1974 – das Ende eines über vier Jahrzehnte andauernden autoritären Einparteiensystems, des Estado Novo.
Den Auftakt gibt damals um Mitternacht der katholische Rundfunksender Rádio Renascença mit einem Lied, dass es in der Diktatur gar nicht geben dürfte: Grândola, vila morena. „Grândola, braungebrannte Stadt, Land der Brüderlichkeit, es ist das Volk, das da bestimmt, in dir, oh Stadt.“ Das Lied, das José Afonso schon zehn Jahre zuvor für einen Arbeiterverein geschrieben hat, basiert auf der Melodie der Alentejo, eines Chorgesangs, den Arbeiter während der schweren Arbeit für die Grundbesitzer sangen.
Am 25. April jedoch ist dieses Lied das Signal für die MFA (Movimento das Forças Armadas), eine Gruppe von Soldaten, die daraufhin die Regierungsgebäude und staatlichen Medien besetzen. Regimetreue Truppen werden überzeugt, sich den Aufständischen anzuschließen, die Einwohner Lissabons strömen auf die Straßen, um die letzten Anhänger des Estado Novo davon abzuhalten, Verwaltungsgebäude zu schützen. Sie stellen sich den bewaffneten Militärs nicht mit ähnlich schwerem Geschütz in den Weg, sondern stecken Nelken in die Gewehrläufe. Schon wenige Stunden später ist die Revolution vorbei; die weiße Flagge wird über der Carmo-Kaserne, dem Hauptquartier der Republikanischen Nationalgarde, gehisst, um kurz vor sieben ergeben sich die regierungstreuen Truppen. Insgesamt gibt es vier Tote. Fünf Tage später, am 1. Mai 1974, feiert Lissabon den Beginn einer neuen Ära: Aus dem Estado Novo der Diktatur wird die „dritte, demokratische Republik“.
Aufstand gegen einen verlorenen Krieg
Doch die Vorgeschichte der Nelkenrevolution blockierte den politischen Wandel, den die Bürger Portugals erhofft hatten. 1974 tobten bereits seit dreizehn Jahren Kriege in den afrikanischen Kolonien Angola, Guinea-Bissau und Mosambik, die nach Einschätzung portugiesischer Militärs nicht mehr zu gewinnen waren. Über 800.000 Soldaten waren bereits nach Afrika entsendet worden – ein Zehntel der damaligen portugiesischen Gesamtbevölkerung. Es schien ein hoffnungsloser Kampf, von dem nur wenige profitierten: die Land-Oligarchie, die mittelständischen Industriezweige, die nur auf Grund ihrer Exporte überlebten, die militärische Elite in Lissabon und die weißen Siedler in den Kolonien.
Aus der Kritik an diesem Krieg waren verschiedene aufständische Gruppen gewachsen: sowohl Konservative, die zwar die Selbstverwaltung, nicht aber die Unabhängigkeit der Kolonien wollten, als auch linksorientierte Gruppen wie die MFA. Sie alle kollaborierten während der Nelkenrevolution, die das Resultat der Unzufriedenheit mit dem scheinbar sinnlosen Krieg war. Nach dem Ende der Revolution jedoch zeigten sich die Gräben zwischen den einzelnen Fraktionen. Sie führten in der Folgezeit zu schwierigen Auseinandersetzungen über die künftige politische Linie Portugals. In der Zeit von 1975 bis 1990 gab es insgesamt 18 Kabinette jeder politischen Couleur. Nach einer kurzen Amtsperiode Spínolas, jenes Generals, der Anfang 1974 mit seinem Buch über die Zukunft Portugals den aufständischen Truppen weiteren Rückenwind gegeben hatte, folgte eine Zeit der Linksbewegung: Grundbesitz wurde kollektiviert, Banken und Industrien nationalisiert. Doch durch die anhaltenden wirtschaftlichen Probleme, die auch auf die inzwischen erlangte Unabhängigkeit der Kolonien zurück zu führen war, hielt sich auch diese Führung nicht lange.
Demokratie mit Gerechtigkeit
Die ständigen Regierungswechsel führten zu einer unsteten Erinnerung an den Beginn der demokratischen Republik. Zwar sind sich alle politischen Richtungen einig, dass der 25. April ein erinnerungswürdiges Datum sei: Nelken werden an den Orten der Revolution niedergelegt, Grândola, vila morena ist auf den Straßen zu hören – das darf jedoch nicht darüber hinweg täuschen, dass ein Großteil dieser Aktionen von Bürgern und Bürgerinitiativen, nicht aber von der Politik organisiert wird.
Der Ruhm der Vergangenheit schützt nicht jeden: Einer der wichtigsten Organisatoren des Aufstandes, Otelo Carvalho, sollte 1975 wegen Mitgliedschaft in einer militanten Gruppe verhaftet werden. Damals hatte er gerade die Präsidentschaftswahlen gegen seinen politischen Widersacher verloren. Dieses Ereignis verdeutlicht, dass die Revolution das Land zwar zunächst geeint hatte, aber das politische Tagesgeschäft und die Vorstellung über Portugals Zukunft weit auseinandergingen.
In Zeiten der Wirtschaftskrise erlangte der 25. April und die Erinnerung an die Befreiung aus der Diktatur neue Bedeutung. „Grândola, braungebrannte Stadt, Land der Brüderlichkeit, es ist das Volk, das da bestimmt, in dir, oh Stadt“ – José Afonsos Lied ist wieder allgegenwärtig, sei es im portugiesischen Parlament, um eine Rede des Ministerpräsidenten zu unterbrechen, oder im März 2013 bei den landesweiten Protesten gegen die Sparpolitik.
Bereits im Jahr zuvor hatte das Parlament harte Sparmaßnahmen verkündet, auch im Bereich der Armee. Daraufhin äußerte sich der frühere Oppositionelle Vasco Lourenço: Er verglich die aktuelle Situation der Halbinsel mit der Situation vor vierzig Jahren, sehe ein Eingreifen des Militärs für gerechtfertigt. Diese Einschätzung teilen nur Wenige, dennoch zeigt die Präsenz der Revolutionssymbole im heutigen Portugal auch, dass es bei diesem Umbruch keineswegs nur um den Übergang einer Diktatur in eine Demokratie ging. Es ging auch um den Wunsch nach sozialer Gleichheit, wie er schon in Grândola, vila morena besungen wird.
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