memorique: Willkommensbewegung im Stillen?

(Foto: Joachim Seidler / photog_ag, Bearbeitung Lara Hartung)

Die Flucht der Deutschen aus dem Osten am Ende des Zweiten Weltkriegs ist heute ein fester Teil der deutschen Erinnerungskultur. Doch wie positionieren sich Deutsche mit „Vertreibungshintergrund“ zur gegenwärtigen Flüchtlingssituation?

von Stephan Scholz

„Flucht und Vertreibung damals und heute – ein Bildervergleich“. Unter diesem Titel veröffentlichte die Berliner Zeitung im September 2015 eine Foto-Strecke im Internet. Kurz nachdem Deutschland seine Grenzen für über Ungarn kommende Flüchtlinge geöffnet hatte, zeigte die Zeitung Fotos von erschöpften Menschen mit nur wenigen Habseligkeiten auf ihrem Weg durch Europa oder in überfüllten Unterkünften. Daneben stellte sie sehr ähnliche historische Fotografien von deutschen Flüchtlingen am Ende des Zweiten Weltkrieges. Auch andernorts wurde immer wieder auf Ähnlichkeiten gegenwärtiger und historischer Fotografien der Flucht verwiesen: „Wie sich die Bilder gleichen“, schrieb auch die Frankfurter Rundschau zu dieser Zeit verblüfft.
Anders als zu Beginn der 1990er Jahre, als die Zahl der Flüchtlinge schon einmal stark angestiegen war, lösten die Fluchtbilder im „Migrationsjahr“ 2015 bei vielen Deutschen Erinnerungen an die erzwungene Migration aus dem Osten zum Ende und infolge des Zweiten Weltkrieges aus. Nur die Wenigsten konnten sich zwar noch an selbst Erlebtes erinnern. Im visuellen Gedächtnis der Gesellschaft waren aber zu dieser Zeit noch die Bilder präsent, die eine Renaissance der Erinnerung zehn Jahre zuvor im Zuge der Debatten um die Deutschen als Kriegsopfer produziert und aktualisiert hatte. Damals war es um ein Zentrum gegen Vertreibungen, um Günter Grass’ Novelle Im Krebsgang oder um Fernsehproduktionen wie Die Flucht oder Die Gustloff gegangen. Seitdem war das allgemeine Bewusstsein gewachsen, selbst auch Opfer des Krieges und insbesondere von Flucht und Aussiedlung aus dem Osten geworden zu sein. Im Zuge dieses medialen Erinnerungsbooms hatte sich gegenüber den deutschen Flüchtlingen, Vertriebenen und Ausgesiedelten retrospektiv ein neues Mitgefühl eingestellt. Im Jahr 2015 übertrug sich diese neue Empathie nun bei Vielen auch auf die Flüchtlinge der Gegenwart.

„Schicksalsvergleiche”
Ehrenamtliche mit einem familiären „Vertreibungshintergrund“ sind, wie aktuelle Erhebungen zeigen, in der Flüchtlingshilfe überproportional stark vertreten. Weitgehend im Stillen ist eine Willkommensbewegung entstanden, die sich auch aus eigenen Migrationserfahrungen und der Bereitschaft zum „Schicksalsvergleich“ speist: Das Bewusstsein, in der eigenen oder familiären Vergangenheit über ähnliche Erfahrungen zu verfügen wie heutige Flüchtlinge, erhöht offenbar bei Vielen die Fähigkeit, Gemeinsamkeiten zwischen sich selbst und den vermeintlich Fremden zu entdecken, sich mit ihnen zu identifizieren und damit die Trennung zwischen der Eigen- und der Fremdgruppe aufzuheben.
Das Potential für eine erfahrungsgeschichtlich fundierte Identifizierung mit heutigen Flüchtlingen, die über eine bloß humanitär begründete Anteilnahme hinausgeht, speist sich aus dem historischen Bewusstsein, selbst Heimatverlust und die Strapazen von Flucht oder Vertreibung erlitten, die Probleme des Neuanfangs und die Konflikte bei der Aufnahme und Integration erlebt, aber auch bewältigt zu haben. Das gilt nicht nur für die selbst von Flucht und Vertreibung betroffenen Deutschen und ihre Nachkommen, sondern auch für die Deutschen insgesamt.
Allerdings gibt es – selbst unter den deutschen Vertriebenen und ihren Nachkommen – auch eine ganz andere Haltung, die sehr viel mehr von Abwehr geprägt ist und die Unterschiede zu heutigen Flüchtlingen betont. Historische Vergleiche gelten hier als unangebracht und irreführend. Dabei kann der Blick nicht nur auf die Gemeinsamkeiten, sondern gerade auch auf die Unterschiede für die Bewertung des heutigen Flüchtlingszuzuges durchaus hilfreich sein. Denn natürlich war 1945 und in den Jahren danach Vieles anders als heute.

„Die klauen Kartoffeln, die klauen Kohle”
Die Belastung, die der Bevölkerungstransfer für ein vom Krieg weitgehend zerstörtes Land mit sich brachte, war damals um ein Vielfaches höher. Die ökonomischen und sozialen Ressourcen und Möglichkeiten der deutschen Zusammenbruchsgesellschaft dagegen waren weitaus geringer als dies heute der Fall ist. Die Aufnahme erfolgte zudem keineswegs bereitwillig und problemlos. Nicht nur für die vertriebenen oder umgesiedelten Deutschen selbst, auch für die Aufnahmegesellschaft handelte es sich um eine erzwungene Migration. Die heute vielfach beschworenen Leistungen bei der Integration erfolgten von beiden Seiten nicht etwa aus freien Stücken oder mit Begeisterung, sondern aus der Einsicht in ihre Notwendigkeit.
Wenn gegenwärtig die sprachlichen, kulturellen und religiösen Unterschiede zu heutigen Zuwanderern hervorgehoben werden, ist zu bedenken, dass diese auch nach Kriegsende zwischen Einheimischen und deutschen Zuwandernden erheblich waren. Sie waren Anlass für zahlreiche Vorbehalte, Diffamierungen und Diskriminierungen, die tatsächlich desintegrativ waren und bei den Betroffenen mental oftmals lange nachwirkten. „Der Ruf der Flüchtlinge war damals auch nicht gut: Die klauen Kartoffeln, die klauen Kohle und so weiter“, meinte der Schriftsteller Arno Surminski kürzlich in einem Interview und erinnerte damit an die damals schon verbreitete Kriminalisierung von neu Zugewanderten.
Die Vertriebenen wurden aber nicht nur mit dem Vorurteil, sie seien latent kriminell, oftmals ausgegrenzt. Auch die konfessionellen Differenzen führten vielerorts zu regelrechten Kulturkämpfen mit den Einheimischen. Die erste katholische oder evangelische Kirche in einer bis dahin konfessionell weitgehend homogenen Gegend wurde als ebenso fremd empfunden, wie dies heute vielfach für Moscheen der Fall ist.
Auch die dieser Tage häufig betonte Tatsache, dass damals Deutsche zu Deutschen kamen, wirkte nur bedingt integrationsfördernd. „Die Einheimischen haben gesagt, wir sprächen kein richtiges Deutsch“, erinnert sich Surminski. Die im Nationalsozialismus beschworene „Volksgemeinschaft“ fand in der Nachkriegsrealität so schnell ihre Grenzen. Die bayerische Landesregierung registrierte Ende der 1940er Jahre allenthalben in der Bevölkerung besorgniserregende, fremdenfeindliche Stimmen. Vertriebene, die nicht selten als „Polacken“ beschimpft wurden, betonten daraufhin ihre nationale Identität und Gleichwertigkeit als Deutsche und reagierten auch langfristig sensibel auf mögliche Infragestellungen ihrer nationalen Zugehörigkeit. Ein nachhaltiger Reflex auf diese frühen Diskriminierungserfahrungen ist die teilweise bis heute zu beobachtende Abweisung von Vergleichen mit ausländischen Zuwanderern.
Das gilt auch für die Vertriebenenverbände und ihren Dachverband, den Bund der Vertriebenen (BdV), der beansprucht, die ca. 12 Millionen deutschen Vertriebenen aus dem Osten und ihre Nachfahren zu vertreten, obwohl nur ein geringer (und zudem stetig sinkender) Bruchteil von ihnen in einem Vertriebenenverband organisiert ist. In der Bundesrepublik zunächst zur Vertretung sozialer Anliegen gegründet, wandelte sich der BdV schnell in einen deutschlandpolitisch konzipierten Verband, dessen Hauptziel bis 1990 die Revision der Ostgrenze war. Nach der endgültigen Grenzanerkennung durch das wiedervereinigte Deutschland verfolgte der BdV das Ziel, sein Narrativ von Flucht und Vertreibung in der deutschen Erinnerungskultur zu verankern, u.a. mit dem Projekt eines Zentrums gegen Vertreibungen. Die deutsche Zwangsmigration wurde dabei weniger in ihrem ursächlichen Zusammenhang mit der deutschen Kriegspolitik, denn als unrechtmäßige Menschrechtsverletzung interpretiert und als solche in das Konstrukt eines „Jahrhunderts ethnischer Säuberungen“ eingefügt. Als Vergleichsgrößen gelten dabei eher Völkermorde und genozidale Verbrechen als andere historische oder gegenwärtige Migrationsphänomene.

Mit „offenen Herzen und Empathie”
Seit in der aktuellen Flüchtlingsdebatte vielfach Bezüge zur Geschichte der deutschen Vertriebenen hergestellt werden, wiederholt der BDV immer wieder, dass die beiden Ereignisse nicht vergleichbar seien. Gleichzeitig registriert der Verband, dass diese vielfachen Bezüge auch der Geschichte der deutschen Vertriebenen neue Aufmerksamkeit bescheren. Im November 2015 erklärte das BdV-Präsidium daher etwas halbherzig: „Wenn Vergleiche unserer damaligen Situation mit der heutigen Flüchtlingslage helfen, die anstehenden Herausforderungen besser zu bewältigen, begrüßen wir diese. Stets sollten jedoch die unterschiedlichen historischen und politischen Voraussetzungen bedacht werden.“
Im April 2016 distanzierte sich der seit 2014 amtierende BdV-Präsident Bernhard Fabritius öffentlich von Äußerungen seiner Vorgängerin und BdV-Ehrenvorsitzenden, Erika Steinbach, die zu den lautstärksten Kritikerinnen der gegenwärtigen Flüchtlingspolitik der Bundesregierung gehört. Statt unnötige Ängste zu schüren, meinte Fabritius, solle man Flüchtlingen mit „offenen Herzen und Empathie“ begegnen.
Auf der lokalen Ebene, wo Integration tatsächlich praktiziert wird, tun das bereits viele ehemalige Vertriebene. Aus der nach 1945 gegründeten Flüchtlingsstadt Espelkamp in Nordrhein-Westfalen etwa berichtet der dortige Pfarrer: „Die meisten Bürger erinnern sich jetzt an ihre eigene Migrationsgeschichte und heißen die neuen Zuwanderer willkommen.“ Sie führen nicht die von ihnen oftmals erlebte Hartherzigkeit fort, sondern handeln nach dem Motto: „Sie sind wie wir. Wir begegnen ihnen, wie man uns damals hätte begegnen sollen.“ Im Gegensatz zu einer lautstarken Minderheit von Kritikern werde diese Willkommenskultur allerdings vornehmlich „im Stillen“ gelebt, so der Pfarrer aus Espelkamp.
Es steht zu hoffen, dass das zivilgesellschaftliche Engagement Wirkung zeigt und stärker ist als die lauten Proteste. Nicht nur für die damals direkt Betroffenen sollte die Erinnerung an die deutsche Zwangsmigration nach Kriegsende heute eine Verpflichtung zu einem empathischen Umgang mit Flüchtlingen sein.

Stephan Scholz (Jg. 1971) ist Privatdozent am Institut für Geschichte der Carl von Ossietzky-Universität Oldenburg. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Wahrnehmung und Deutung von Vertreibungen. Er ist Mitherausgeber des Sammelbandes Die Erinnerung an Flucht und Vertreibung. Ein Handbuch der Medien und Praktiken.

Kontakt: stephan.scholz[at]uni-oldenburg.de


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