50 Jahre lang verübten Deutsche der Sekte „Colonia Dignidad“ im Süden Chiles Verbrechen gegen die Menschheit. Institutionen wie der Deutschen Botschaft und dem Auswärtigen waren die Straftaten bekannt, sie hüllten sich jedoch in Schweigen, hatten sogar enge Kontakte zu Mitgliedern. Wie konnte es dazu kommen?
von Elsa
Triggerwarnung: Dieser Text thematisiert Mord, Folter und sexualisierte Gewalt
„Ordentlich und sauber“. So beschreibt der deutsche Botschafter Erich Strätling im Jahre 1977 nach seinem Besuch den Zustand in der Colonia Dignidad, der „Kolonie der Würde“. Die UNO hatte die Colonia im vorherigen Jahr in einem Bericht als Folterstätte beschrieben. Amnesty International hat im selben Jahr eine Broschüre mit Vorwürfen der Menschenrechtsverletzungen veröffentlicht. Doch die deutsche Botschaft schaute weg und ließ sich lieber „Leberwurst und Brötchen von der Sekte schicken“, wie Eduardo Salvo, ein Opfer der Colonia, berichtete.
1961 flieht Paul Schäfer nach Lateinamerika. Er muss die „Private Soziale Mission e.V.“, die er sich in der Nähe von Heide in Nordrhein-Westfalen aufgebaut hatte, verlassen. Er wird von der deutschen Regierung per Haftbefehl wegen zwei Fällen des sexuellen Missbrauchs gesucht. Im Süden Chiles findet der Prediger den Ort, an dem er die Sociedad Benefactora y Educacional Dignidad errichten wird. Auf 3000 Hektar Land, El Lavadero, 40 km per Schotterstraße vom nächsten Ort Parral entfernt, errichten seine Anhänger:innen, die neuen Kolonist:innen, die ihm nach Chile folgen, ein Dorf. Sie sind von der Nachkriegszeit enttäuscht und desorientiert, haben Angst vor der just gebauten Mauer. Sie glauben, in Paul Schäfer eine neue Leitfigur gefunden zu haben. Seine Neuinterpretation des Evangeliums predigt Gottgefälligkeit durch harte Arbeit und Keuschheit. Doch das Versprechen nach christlicher Reinheit wendet sich bald gegen die Kolonist:innen. Die Familien und Geschlechter werden getrennt, die Kinder von ‚Tanten‘ großgezogen. Privateigentum ist verboten. Dreh- und Angelpunkt ist die Person Paul Schäfer, der mithilfe von Manipulation, Demütigung, sexualisierter Gewalt und Bestrafungen psychischer und physischer Art ein System installiert, in dem ihm die Kolonist:innen hörig sind. Sie müssen bei ihm in der ‚Seelsorge‘ ihre ‚Sünden‘ beichten, überwachen sich gegenseitig und denunzieren die Fehltritte anderer. Folgsame werden belohnt, ‚Verräter‘ bestraft. Nach außen hin gibt sich die Colonia als deutsche Musterkolonie, die durch das Krankenhaus Hospital El Lavadero kostenlose Behandlungen, Essen, Trinken und Kleidung für chilenische Kinder der Umgebung anbietet. Einige davon werden unter dem Deckmantel der Adoption entführt und in die Kolonie eingegliedert. Ausgewählte Jungen begleiten Schäfer als ‚Sprinter‘ täglich, sie werden sexuell missbraucht. Die Kolonist:innen sind isoliert, sie dürfen die Sekte nicht mehr verlassen.
Doch von der Welt ist die Colonia alles andere als abgeschnitten. Sie knüpft gleich zu Beginn enge Bindungen zur deutschen Botschaft und wirbt um Unterstützung. 1963 besuchen zwei Botschafter auf besorgte Anfragen von Angehörigen, welche befürchten, ihre Familien würden festgehalten, die Colonia. Die Botschafter vermuten, dass es sich um eine Sekte handelt, weisen aber Vorwürfe gegen Paul Schäfer wegen der „mustergültige[n] Ordnung“ vor Ort zurück. Dieses ambivalente Narrativ bleibt für die Haltung der deutschen Botschaft prägend. Auch nach der Flucht des Kolonisten Wolfgang Müllers (heute Kneese) drei Jahre später und des darauffolgenden – auch internationalen – Medienechos, hält sich die Botschaft bedeckt. Das Auswärtige Amt fürchtet, dass die Berichte „dem deutschen Ansehen abträglich“ wären und verweist regelmäßig die Verantwortlichkeit auf die chilenischen Behörden. Müller will juristisch gegen die Colonia vorgehen und scheitert. Er wird selbst wegen Homosexualität, Diebstahl und Verleumdung zu fünf Jahren und einem Tag Haft verurteilt. 1968/69 fliehen zwei andere Kolonist:innen und berichten von Misshandlungen. Beide müssen in die Kolonie zurückkehren, wo sie gefoltert werden. Einer der beiden überlebt mit schweren psychischen und körperlichen Schäden.
Aufgrund der Wahl des sozialistischen Präsidenten Salvador Allende 1970 und der geplanten Enteignung von Großgrundbesitzer:innen fühlt sich die Kolonie bedroht. Schäfer hetzt die Kolonist:innen „gegen den Kommunismus“ auf. Die Sekte isoliert sich noch weiter, von Wächter:innen bewachte Grenzzäune werden gebaut. Schäfers rechte Hand Kurt Schnellenkamp nimmt Kontakt zu dem deutschen Waffenhändler Gerhard Mertins auf, einem ehemaligen SS-Mann. Jeder Kolonist erhält eine Pistole, gelieferte Maschinengewehre werden in Serie nachgebaut. Währenddessen planen rechte Gruppierungen, gestützt durch die CIA den Sturz Allendes. Schäfer verbindet sich mit hochrangigen Militärs und paramilitärischen Milizen wie Patria y Libertad(Vaterland und Freiheit). Vor Ort werden Piloten trainiert, Waffen an rechte Kräfte geliefert, die Colonia beteiligt sich an Sabotageaktionen. 1973 kommt es schließlich unter der Führung Augusto Pinochets zum Militärputsch. Allende nimmt sich im Präsidentenpalast La Moneda das Leben, innerhalb der ersten Tage werden tausende Regimegegner:innen verhaftet, im Laufe der Diktatur fast 4.000 ermordet. Dafür errichtet der chilenische Geheimdienst, DINA, unter der Leitung Manuel Contreras ein Netzwerk von Folterstätten. Zu den Bekanntesten gehört auch die Colonia Dignidad. Im ‚Kartoffelkeller‘ werden die Opfer mit Strom gefoltert und ermordet, ihre Überreste in Massengräbern verscharrt und später verbrannt. Während der Diktatur Pinochets erlebt die Colonia ihr Goldenes Zeitalter. Schäfer und Pinochet handeln ein Abkommen, das infrastrukturelle, wirtschaftliche und militärische Zusammenarbeit festlegt, aus, wodurch die Kolonie zu Reichtum gelangt. Währenddessen kann sie ihren Einfluss nach Deutschland bis in die Kreise der CDU und CSU ausbauen. Sie nutzt die durch den Kalten Krieg ausgelöste antikommunistische Stimmung für eigene Zwecke, die neoliberale Diktatur Pinochets inszeniert sich als Speerspitze gegen den Kommunismus. Ihr Netz umspannt auch die Politiker Lothar Bossle und Dieter Blumenwitz, die „auf Behörden in der Bundesrepublik ein[wirkten], um aufklärerische Initiativen gegen die CD [Colonia Dignidad] zu verhindern bzw. diese als linke Meinungsmache abzutun“, wie Jan Stehle in seiner Dissertation schreibt. Sie helfen der Colonia, Kontakte zu deutschen Unternehmen zu knüpfen, Geschäfte zu machen. Auch der Botschafter Strätling und einige seiner Mitarbeiter:innen pflegen eine ideologische Nähe zur Kolonie. Der Luftwaffengeneral Fernando Matthei, der zum engsten Kreis um Pinochet gehört, und den Sträfling regelmäßig bei Vorwürfen gegen die Colonia kontaktiert, lobt die „verständnisvolle Haltung der Bundesrepublik gegenüber der Diktatur in Menschenrechtsfragen“. 1976 legt die UN einen Bericht vor, in dem die Folterungen in der Colonia benannt werden. 1977 veröffentlicht Amnesty eine Broschüre zum selben Thema. Die darauffolgenden Besuche des Botschafters Strätlings in der Kolonie bleiben jedoch ohne Ergebnis. Im Gegenteil: Strätling zeigt sich von der Disziplin und Sauberkeit vor Ort beeindruckt. Erst zu Beginn der 80er Jahre nach der Flucht zweier weiterer Colonos und unter Leitung eines neuen Botschafters erwachen die deutschen Behörden langsam. Der CDU-Bundesminister Norbert Blühm, der lange für Amnesty International arbeitete, reist gegen Anraten seiner Partei nach Chile und versucht die Colonia zu betreten, woran er scheitert. Er kommentiert: „Und richtig ist, dass diese Kolonie eine Musterfarm der Menschenverachtung ist und wir sind da mit betroffen, denn es sind Deutsche, die hier schuldig geworden sind.“
1988 dankt Pinochet nach einer verlorenen Volksabstimmung ab. Die Colonia nennt sich in Villa Baviera(bayrisches Dorf) um. Schäfer organisiert Freizeitaktivitäten und ein „Intensivinternat“ für Kinder der Umgebung. Versuche der chilenischen Regierung, das Krankenhaus zu schließen, scheitern. Erst 1997 flüchtet Schäfer aufgrund eines Haftbefehls wegen sexualisierter Gewalt an zwei chilenischen Jungen aus der Kolonie. 2005 wird er in Argentinien gefasst und verstirbt 2010 im chilenischen Gefängnis. Drei Kolonisten seines engsten Zirkels, Schnellenkamp, Schaffrik und Mücke erhalten einige Jahre Haft – jedoch nur wegen Beihilfe zum sexuellen Missbrauch, nicht wegen Mordes. Die Aufklärung der Verbrechen der Militärdiktatur bleibt bis heute in Chile ein hochpolitisches Thema.
Die Villa Baviera besteht indessen weiter. Einige der ehemaligen Colonos verwalten den Tourismus-Ort, an dem Besucher:innen „deutsche Traditionen“ kennenlernen kann, wie die Website wirbt. Vor Ort existiert eine kleine Ausstellung über die Gewalttaten, die die Kolonist:innen erlebten, aber noch kein Denkmal für die Opfer der Militärdiktatur. Dafür wurde eine bilaterale Kommission gegründet, die auch ein Archiv plant, doch der Prozess bleibt schleichend. Das liegt auch daran, dass der letzte chilenische Minister für Recht und Menschenrechte Hernán Larraín selbst Kontakte zur Colonia pflegte. Frank-Walter Steinmeier räumte 2016 nach Veröffentlichung des Filmes „Colonia Dignidad – Es gibt kein Zurück“ von Florian Gallenberger Fehler der deutschen Botschaft und des Auswärtigen Amtes ein. Die Wahrung der Menschenrechte auf anderen Kontinenten sei nicht Schwerpunkt der deutschen Außenpolitik gewesen. Er ließ die Akten früher öffnen, um die Aufklärung anzutreiben. 2019 wurde ein Hilfsfond mit 10.000 Euro für die Opfer der Kolonie beschlossen.
Juristisch gibt es wenige Erfolge. Die Vermögensstruktur der Colonia, die sich aus geschlossenen Aktiengesellschaften zusammensetzt, bleibt undurchsichtig. Einige der Täter haben sich nach Deutschland abgesetzt, um sich der Verhaftung zu entziehen. Wegen ihrer deutschen Staatsbürgerschaft werden sie nicht an Chile ausgeliefert, die deutsche Justiz selbst zeigt bis heute wenig Eigeninitiative. 2019 wurde das Verfahren gegen Hartmut Hopp, den Leiter des Krankenhauses, wegen mangelnder Beweise eingestellt. Letztes Jahr im November ließ man den Vertrauten Schäfers Reinhard Döring, der im Italienurlaub gefasst wurde, mit Hinweis auf seinen Gesundheitszustand frei. Beide leben in Deutschland.
Buch- und Filmtipps zum Thema:
Stehle, Jan: Der Fall Colonia Dignidad. Zum Umgang bundesdeutscher Außenpolitik und Justiz mit Menschenrechtsverletzungen 1961 – 2020. Bielefeld: Edition Politik (Bd. 125) 2020. (online kostenlos verfügbar)
Baumeister, A.; Christiansen, K.: Colonia Dignidad. Aus dem Innern einer deutschen Sekte. ARTE 2020. (auf Netflix)
Asociación por la memoria y los derechos humanos – Colonia Dignidad (für Spanischsprechende)
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