Der Algerienkrieg blieb in Frankreich lange ein „Krieg ohne Namen“. Heute wird diese Episode der kolonialen Vergangenheit thematisiert, aber das schwerste Erbe bleibt bestehen: der Front National.
von David
Vor zehn Jahren, am 21. April 2002, blickten Politikinteressierte aus ganz Europa nach Frankreich: In die Stichwahl gegen den amtierenden Präsidenten Jacques Chirac ging nicht wie erwartet der Sozialist Lionel Jospin, sondern der Führer der Rechtsradikalen, Jean-Marie Le Pen. Nur wenige bemerkten damals, dass dieser erschütternde Wahlausgang zufälligerweise 40 Jahre nach der Beendigung eines der brutalsten Entkolonisierungskriege des 20. Jahrhunderts erfolgte, des Algerienkrieges. Vielleicht doch nicht ganz zufällig. Algerien war nicht „irgendeine“ Kolonie, sondern ein integraler administrativer Bestandteil der „unteilbaren“ Republik. Kolonialismus-Ideologen lobten die Verknüpfung der wirtschaftlichen Erschließung des Landes und der moralischen Zivilisierung der indigenen Bevölkerung. Dieser Zivilisationsdiskurs erlaubte einem breiten politischen Spektrum, die systematische Diskriminierung der algerischen Bevölkerung – wie auch ihre stets blutig niedergeschlagenen Proteste – unter dem Deckmantel republikanischer Werte auszublenden.
Ein Krieg ohne Namen
Der letzte Aufstand begann 1954. Ihm folgte ein acht Jahre langer Krieg, in dem die französische Armee keine Mittel scheute, um Algerien „französisch zu halten“: Folterungen, Vergewaltigungen, Vertreibungen, Deportationen und Massenhinrichtungen. Trotz militärischer Erfolge scheiterte Frankreich politisch: Die IV. Republik zerbrach. Als De Gaulle anfing, mit der algerischen Nationalen Befreiungsfront (FLN) um einen Waffenstillstand zu verhandeln, führte dies zur Bildung der Organisation der Geheimarmee (OAS). Diese terroristische Vereinigung rechtsradikaler französischer Militärs brachte die V. Republik für kurze Zeit an den Rand eines Bürgerkrieges. Hunderttausende Algerier verloren im Krieg ihr Leben und zwei Millionen wurden vertrieben (ein Fünftel der einheimischen Bevölkerung). Der Terror des FLN kostete Zehntausenden Franzosen und Algeriern das Leben. Nach dem Waffenstillstand im März 1962 folgten die Vertreibung von etwa einer Million französischer Kolonisten und Massenmorde an jenen algerischen Hilfssoldaten, die die französische Armee zurückgelassen hatte.
Schon 1962 setzte das staatspolitische Verschweigen des Algerienkrieges ein, mit Amnestien für Kriegsverbrecher und OAS-Mitglieder. „Ereignisse in Nordafrika“ war der Euphemismus, mit dem das gaullistische Frankreich die Existenz des Krieges verneinte – auch, um die Rentenansprüche der über eineinhalb Millionen „Ereignis“-Veteranen zu umgehen. Nicht nur sie, sondern auch eine Million ehemalige Kolonisten, Hunderttausende algerische Immigranten und zehntausende algerische Verfolgte des FLN-Regimes bildeten ebenso wie viele OAS-Mitglieder eine Basis für gruppenspezifische Erinnerungskulturen, die in Frankreich bis heute nachwirken.
Dem staatlichen Schweigen setzten ehemalige Offiziere die Veröffentlichung ihrer Memoiren über die „Ereignisse“ entgegen, und die vertriebenen Kolonisten erinnerten sich in nostalgischen Zeremonien an ihr „zivilisatorisches Werk“ und an den Heimatverlust. Einfache „Ereignis“-Veteranen engagierten sich hingegen in unzähligen untereinander verfeindeten Verbänden. Ehemalige OAS-Aktivisten führten in Frankreich ihren Kampf für „Französisch-Algerien“ auf eigene Art weiter: In den 1970er Jahren ermordeten sie – vom Staat weitestgehend unbeachtet – mehrere Dutzend algerischer Immigranten. OAS-Mitglieder, die der Gewalt abgeschworen hatten, traten jener Partei bei, die sich seit ihrer Gründung 1972 der Erinnerung an das „französische Algerien“ und vor allem dem Kampf gegen nordafrikanische Immigranten widmete: dem Front National (FN).
Foltern im Namen der Republik
Mitte der 1990er Jahre kamen die „Ereignisse“ wieder in die Öffentlichkeit. Auslöser dafür war der Prozess gegen den Kollaborateur Maurice Papon wegen seiner Rolle bei der Deportation französischer Juden im Zweiten Weltkrieg. Im Laufe der Verhandlungen wies ein Historiker darauf hin, dass Papon auch direkt für die „Ereignisse“ vom 17. Oktober 1961 verantwortlich war: An diesem Tag wurden Dutzende friedliche algerische Demonstranten in Paris von Polizisten ermordet. Papon hatte als Pariser Polizeipräfekt die Gewalt angeordnet. Schon seit langem forderten Initiativen algerischer Immigranten die Würdigung des 17. Oktobers als Gedenktag. 2001 wurde eine Gedenktafel am Pont Saint-Michel eingeweiht.
1999 beendete ein Gesetz das staatspolitische Schweigen: Der französische Staat nannte nun offiziell das „Algerienkrieg“, was er 40 Jahre lang als „Ereignisse in Nordafrika“ bezeichnet hatte. Damit war auch der Grundstein für die öffentlichen Debatten über die Folterungen im Algerienkrieg gelegt: Im folgenden Jahr veröffentlichte Le Monde einen Artikel über eine FLN-Aktivistin, die im Krieg von französischen Offizieren gefoltert und vergewaltigt worden war. Nach den Stimmen der Opfer folgten die der Täter: General Jacques Massu gestand öffentlich ein, Folterungen angeordnet zu haben und sprach zugleich Reue für sein damaliges Handeln aus.
Am selben Tag wie Massu rechtfertigte General Paul Aussaresses hingegen den Einsatz von Folterungen im Kampf gegen den FLN und brüstete sich gar damit, eigenhändig „Verdächtige“ getötet zu haben. Nach empörten Reaktionen und mehreren Strafanzeigen wegen „Beihilfe zur Verherrlichung von Kriegsverbrechen“ wurde Aussaresses zu einer geringen Geldstrafe verurteilt. Die Ausstrahlung zweier Dokumentationen über die französischen Verbrechen während des Algerienkrieges im Staatsfernsehen bildete 2002 den Abschluss der französischen „Folter-Debatte“.
Für einen erneuten Skandal sorgte 2005 die Verabschiedung eines Gesetzes über die Anerkennung der Algerien-Franzosen. Mehr als die geäußerte Dankbarkeit für das „vollbrachte Werk“ Frankreichs in den ehemaligen Kolonien Nordafrikas sorgte besonders ein Paragraph für Aufsehen: „Die Schullehrpläne anerkennen im Besonderen die positive Rolle der französischen Anwesenheit in Übersee.“ Lehrerverbände und Historiker forderten empört die Rücknahme des Gesetzes. Außenpolitisch ging der Schuss nach hinten los: Die algerische Regierung ließ einen Freundschaftsvertrag mit Frankreich platzen, den Chirac schon seit seinem aufsehenerregenden Staatsbesuch in Algerien 2003 vorbereitet hatte. Anfang 2006 ließ er den umstrittenen Paragraphen streichen. Der Schaden in den algerisch-französischen Beziehungen war aber vorerst nicht wieder gutzumachen.
Postkoloniale Ghettos
Auch heute ist der „Erinnerungskrieg“ um Algerien nicht beendet. Gruppenspezifische Erinnerungen werden wohl auch in den nächsten Jahren die Auseinandersetzungen dominieren, unterbrochen von mehr oder minder langen „nationalen“ Skandal-Debatten. Obwohl der Algerienkrieg seit über zehn Jahren offen thematisiert wird, weist die Historikerin Sandrine Lemaire auf schwerwiegende Probleme hin: Wie die Gesetzesdebatte von 2005 zeigt, halten sich koloniale Denkmuster von der „zivilisatorischen Mission Frankreichs“ hartnäckig. Die Verachtung vieler Franzosen für jene ehemals „Kolonisierten“, die in der „Metropole“ ihr Leben als gleichberechtigte französische Staatsbürger gestalten möchten, enthüllt die ganze Verlogenheit des (post-)kolonialen Zivilisationsdiskurses. Lemaire weist auch darauf hin, dass Blockaden der Erinnerungen mit zeitgenössischen sozialen Blockaden zusammenhängen – etwa mit der alltäglichen Diskriminierung nordafrikanischer Immigranten und ihrer Ghettoisierung in Trabantenstädten. Die europäische Islamophobie ist keineswegs ein neues Phänomen, sondern reicht in Frankreich bis zur (Ent-)Kolonisierung zurück. Die 15 bis 20% der Wählerschaft, die die Massenbasis des Front National bilden, zeugen davon.
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