memorique: „Wir sind Flüchtlinge in unserem eigenen Land“

Auch auf dem malerischen Rottnest Island finden sich bis heute keine Hinweise auf die koloniale Vergangenheit Australiens. (Foto: flickr / Sam West)
Auch auf dem malerischen Rottnest Island finden sich bis heute keine Hinweise auf die koloniale Vergangenheit Australiens. (Foto: flickr / Sam West)

Das Leiden der indigenen Australier wurde seit der Kolonialisierung nicht beachtet – oder als Kol­la­te­ral­scha­den angesehen. Die Bevölkerung lebt in Unkenntnis ihrer eigenen Nationalgeschichte und bis heute findet keine Aufarbeitung statt.

von Johannes G. F. Bruhn

Ein kleines Gedankenexperiment: Ein früheres Konzentrationslager, irgendwo in Deutschland, seine Geschichte: heute weitgehend vergessen. Es gibt keine Gedenkstätte, keine Ausstellung mit historischen Fotos und Objekten, keine Begleittexte. Keine Gedenktafeln, keine Klassenausflüge und Seminare zur politischen Bildung. Die Massengräber eingeebnet und unkenntlich gemacht, die Gebeine unter der Erde vergessen.
Eine verstörende Vorstellung? Und doch entspricht sie der Wahrheit, abgesehen von einem Detail: Das Konzentrationslager befindet sich nicht in Deutschland, sondern auf Rottnest Island, einer kleinen Insel vor der australischen Westküste, eine halbstündige Fährfahrt von Perth entfernt. Von 1838 an wurden hier tausende männlicher Aboriginals inhaftiert, gefoltert, getötet. Heute befindet sich in den Baracken ein Wellnesshotel, das Zimmer für umgerechnet 160 Euro die Nacht. Selbst einen kurzen, beschönigenden Text zur Geschichte des Ortes sucht man in den Broschüren vergeblich.
Konzentrationslager in Australien? Diese Seite des Landes bleibt den meisten verborgen: Australien genießt einen exzellenten Ruf in der Welt. Es gilt als eines der reichsten und weltoffensten Länder. Fast sechs Millionen Einwohner, mehr als ein Viertel der Gesamtpopulation, wurden außerhalb Australiens geboren. Nirgendwo auf der Welt ist der Anteil höher. Viele kommen nach wie vor aus Großbritannien und anderen europäischen Ländern, doch mit der verstärkten Zuwanderung aus Südostasien und vom indischen Subkontinent seit Mitte des 20. Jahrhunderts, und seit den 1990er Jahren auch verstärkt aus muslimischen Ländern, ist Australien ein multikulturelles Land geworden. Jeder ist willkommen. So scheint es auf den ersten Blick, und die Zahlen bestätigen diesen Eindruck. Umso erstaunlicher ist, dass das für die ersten Australier nicht gilt. Die Suche nach dem Grund dafür gestaltet sich jedoch außerordentlich schwierig. Selbst die wenigen Experten und Aktivisten, die sich damit befassen, wirken ratlos. Jon Altman etwa, Anthropologe und Ökonom an der Australian National University in Canberra, befürchtet gar, das Problem übersteige die Fähigkeiten der australischen Gesellschaft. Man sei nicht in der Lage, rational damit umzugehen und brauche eigentlich Hilfe aus dem Ausland.

Aus den Augen, aus dem Sinn
Die ersten Australier, ihre dreißigtausend Jahre alte Geschichte, ihr Leiden vom Moment des ersten Kontakts an bis heute, kommen im öffentlichen Diskurs praktisch nicht vor. Aus einer deutschen Perspektive scheint das zunächst unverständlich. Wir sind es gewohnt, mit den negativen Aspekten unserer Nationalgeschichte umzugehen. Doch bei genauerer Betrachtung stellt Deutschland damit einen Sonderfall dar. Auch hat diese Auseinandersetzung erst einige Jahrzehnte nach den Verbrechen des Nationalsozialismus begonnen. Und schließlich beschränkt sie sich weitgehend auf diese; Auseinandersetzungen mit der Kolonialgeschichte etwa kommen hier ebenso wenig vor wie im Vereinigten Königreich, Frankreich oder Spanien. Man lässt gerne weg, was einem unangenehm ist. Das gilt auch für Australien – und das wäre die kurze Antwort.
Allein, es lassen sich ja Beispiele finden, in denen unangenehme Themen es auf die öffentliche Agenda schafften. Sowohl die Unterdrückung der Afroamerikaner in den USA, als auch die rechtliche Benachteiligung der Frauen in der gesamten westlichen Welt, wurden von sozialen Bewegungen aufgegriffen, die diese Themen trotz aller Widerstände auf die Agenda gesetzt und so schlussendlich sozialen Wandel bewirkt haben.
Warum also gelang das in Australien bis heute nicht? Vereinzelte Versuche dazu hat es zwar gegeben, vor allem als in den 1970er Jahren überall auf der Welt soziale Bewegungen entstanden. Gary Foley etwa, den manche als den „Malcolm X. Australiens“ bezeichnen, stand an der Spitze einer kleinen Gruppe, die sich das amerikanische Black Panther Movement zum Vorbild nahm. Manche sahen ihr Heil in sozialistischen Utopien. Wieder andere streikten für Lohnerhöhungen und Verbesserungen der Arbeitsbedingungen auf den Farmen und Plantagen, wo viele Aboriginals arbeiteten. Letztgenannte waren auf lokaler Ebene teils durchaus erfolgreich, ansonsten verpufften die Bemühungen aber im Wesentlichen folgenlos. Um das zu verstehen, kommt man an einem historischen Exkurs nicht vorbei.

Konflikte zwischen Siedlern und Ureinwohnern
Als mit Sydney 1788 die erste Stadtgründung Australiens erfolgte, wurden die in der Region lebenden Eingeborenen nicht als vollwertige Menschen anerkannt, und daran änderte sich bis ins 20. Jahrhundert hinein nur relativ wenig. Obwohl die ersten Kolonialgouverneure ihnen gegenüber nicht grundsätzlich feindselig eingestellt waren, kam es immer wieder zu Konflikten zwischen einzelnen Siedlern und Ureinwohnern, die für Letztere nicht selten tödlich endeten. Als weitaus folgenreicher erwiesen sich aber noch die Krankheiten, die von den Europäern mitgebracht wurden: Sie waren den Immunsystemen der Aboriginals fremd und rafften schon in den ersten Jahrzehnten zehntausende dahin. Andere wurden vertrieben oder kamen ihrem Schicksal durch Flucht zuvor.
Auf Seiten der Kolonialisten wurde diesem Problem niemals besondere Bedeutung beigemessen. Die ersten Australier hatten eine vollständig friedfertige Kultur etabliert und waren mit dem Konzept von Landnahme, von Krieg, ja selbst von Macht und hierarchischer Ordnung nicht vertraut, sodass sie sich auch niemals organisiert zur Wehr setzten. Das unterscheidet sie beispielsweise von den neuseeländischen Maori und anderen polynesischen Kulturen. Hinzu kommt, dass es keine einheitliche indigene Kultur gab; die Riten und Traditionen der einzelnen Clans waren höchst heterogen. So gab es tausende Sprachen. Auch in den Clans selbst existierten oft dutzende; etwa solche, die nur von Frauen während der Schwangerschaft oder von Männern während des Beschneidungsrituals gesprochen wurden. Das Fehlen einer gemeinsamen Sprache ist einer der Gründe dafür, warum es später niemals zu einem einheitlichen Aboriginal-Rights-Movement kam. Das Beispiel der Maori zeigt dagegen, wie identitätsstiftend eine gemeinsame Sprache wirken und somit einer Bewegung eine Stimme verleihen kann.
Vor allem aber darf die Bedeutung der Geographie nicht ignoriert werden: Australien erstreckt sich über fast 7,7 Millionen Quadratkilometer, eine Fläche in die Deutschland mehr als 21-mal hineinpassen würde. Gleichzeitig beträgt die Bevölkerung auch heute nur gut 24 Millionen Einwohner – selbst Island ist dichter besiedelt. Zudem konzentriert sich die Besiedlung auf wenige Ballungszentren, die ausschließlich an den Küsten liegen. Jeder fünfte Australier lebt allein in Sydney. Dagegen ist das Landesinnere quasi menschenleer.
Angesichts dessen kann man sich Australien bis weit ins 20. Jahrhundert hinein nicht wie einen modernen Staat nach europäischen Maßstäben vorstellen. Selbst der Wilde Westen Amerikas, berüchtigt für seine Rechtlosigkeit, dürfte im Vergleich zu weiten Teilen Australiens gut organisiert gewesen sein. Die sich langsam entwickelnde Kolonialverwaltung und ihre Organe, erst recht London und das Colonial Office, waren unendlich weit weg. Erst das Flugzeug ließ die Distanzen zwischen den großen Städten schrumpfen, doch die endlosen Weiten dazwischen sind auch heute noch schlecht angebunden.
„Aus den Augen, aus dem Sinn“, das war im Grunde die öffentliche Haltung gegenüber den Ureinwohnern – und ist es bis heute. Zwar gibt es auch in den Großstädten Nachfahren der ersten Australier, doch ist ihre Zahl gering. Auf den Straßen von Sydney wird man eher einem Libanesen, Griechen oder Deutschen begegnen als einem Aboriginal. Auch das ist ein Grund dafür, dass es niemals eine schlagkräftige soziale Bewegung gab: Es gibt zu wenige Betroffene an einem Ort, als dass sie eine kritische Masse erreichen würden.
Ein einheitlich organisiertes politisches Programm zum Umgang mit den ersten Australiern gab es auf Grund der beschriebenen Umstände nie. An manchen Orten lebten beide Gruppen relativ friedlich nebeneinander her, an anderen, wie etwa in Tasmanien oder Teilen Westaustraliens, kam es de facto zu Genoziden, organisiert durch lokale Amtsträger, teilweise auch spontan durchgeführt von Farmern aus Rache für Viehdiebstähle. Die Zentralregierung hatte noch lange nicht die Stärke, verbindliche Regeln durchzusetzen, und wohl auch gar nicht den Wunsch dazu. Selbst aus den 1920er Jahren finden sich noch regierungsamtliche Dokumente, die ein Aussterben der Aboriginals bis Mitte des Jahrhunderts prognostizierten. Dass sich das „Problem“ auf diesem Wege von selbst erledigen würde, wurde ausdrücklich begrüßt. Weit verbreitet war bis 1969 auch eine Politik, die heute als die der „Stolen Generations“ bekannt ist: Geschätzte 35.000 indigene Kinder wurden aus ihren Familien gerissen, um so das Verschwinden der indigenen Kultur zu beschleunigen.

Vorurteile überwiegen
Heute ist Australien das einzige so genannte Erste-Welt-Land, das regelmäßig von der UNO wegen Menschenrechtsverletzungen gerügt wird, aber eine öffentliche Reaktion bleibt weitgehend aus. Immer wieder kommen Aboriginals in Polizeigewahrsam zu Tode, ohne dass es Ermittlungen oder gar personelle Konsequenzen gäbe. Und nach wie vor lebt ein Großteil unter erbärmlichen Verhältnissen in entlegenen Gegenden, ohne Strom und fließendes Wasser in heruntergekommenen Hütten. Die durchschnittliche Lebenserwartung liegt um gut zehn Jahre unter dem Landesdurchschnitt. Obwohl sie nur drei Prozent der Bevölkerung ausmachen, stellen Aboriginals 28 Prozent der Gefängnisinsassen. An all diesen Zahlen hat sich in den letzten Jahrzehnten kaum etwas geändert.
Die öffentliche Meinung ist von wenig Wissen und Verständnis, aber von vielen Vorurteilen und Vorwürfen geprägt. Aboriginals gelten vielen als faul und disziplinlos, sie würden nur Forderungen stellen, sich betrinken und ihre Kinder misshandeln, wären gewalttätig und kriminell und überhaupt sollten sie mal über die Vergangenheit hinwegkommen. Medien und Politik unterstützen dieses Bild. Einen glaubwürdigen Versuch zur Wiedergutmachung von offizieller Seite, gründliche Untersuchungen mit entsprechender Förderung – all das hat es nie gegeben. Die vereinzelten Ansätze der vergangenen Jahrzehnte, etwa der zaghafte Versuch eines Native Land Rights-Act Anfang der 1990er Jahre, die mediale Inszenierung um die indigene Läuferin Cathy Freeman zu den Olympischen Spielen 2000 oder die rein symbolische Entschuldigung für die „Stolen Generations“-Politik durch den damaligen Premierminister Kevin Rudd im Jahr 2008, erwiesen sich bald als Strohfeuer und nährten die Enttäuschung der Betroffenen nur noch mehr, zumal es im Jahr darauf 37 neue Fälle von Kindesentzug allein in Lightning Ridge, einer Kleinstadt in New South Wales gab.
Wer das allgemeine Bild hinterfragt, der tut es aus eigenem Antrieb heraus, denn Medien und Politik geben dazu wenig Anlass. Selbst an den Universitäten, die auch in Australien heute Hochburgen des sozialen Aktivismus sind, interessiert sich kaum jemand für die ersten Australier; anders als für die Bootsflüchtlinge, deren prekäre Lage – interniert auf der Pazifikinsel Nauru – selbst in europäischen Medien thematisiert wird. Noel Nannup, der für die Errichtung einer Gedenkstätte auf Rottnest Island kämpft, spricht aus, was man so oder ähnlich oft hört: „Wir sind Flüchtlinge in unserem eigenen Land.“

Johannes G. F. Bruhn studiert im Master Politikwissenschaft an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und forscht zur Stellung indigener Kulturen im pazifischen Raum.

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