Während der argentinischen Militärdiktatur wurden die Neugeborenen inhaftierter Frauen der Adoption an regimetreue Familien freigegeben. Ihre Großmütter begannen, nach ihnen zu suchen – und lösten einen schmerzhaften Erinnerungsprozess aus.
von Babs
Ignacio strahlt, als er den Namen bekannt gibt, den er von nun an tragen wird: Guido. So hieß auch sein Vater – sein leiblicher Vater. Ignacio ist 36 Jahre alt, als er zum ersten Mal seine Großmutter trifft. Estela de Carlotto hat seit dem gewaltsamen Tod ihrer Tochter Laura in den argentinischen Foltergefängnissen 1978 unermüdlich nach ihrem Enkel gesucht. „Ich wollte nicht sterben, ohne ihn einmal zu umarmen“, gibt die sichtlich gerührte Großmutter bei einer Pressekonferenz zu Protokoll. Ignacio ist eines der 500 Kinder, das während der Militärjunta in Argentinien geboren, seiner leiblichen Mutter weggenommen und an eine regimetreue Familie gegeben wurde.
Die unheilvolle Wendung in Ignacios Leben nahm ihren Ursprung in dem Militärputsch am 26. März 1976. Argentinien stand durch eine anhaltende wirtschaftliche Krise am Rand des Zusammenbruchs, auch die politischen Fronten waren verhärtet – Kämpfe zwischen linken und rechten Gruppierungen gehörten zum Alltag. Die Präsidentin Isabel Perón versuchte der Lage mit Hilfe ultranationalistischer Todesschwadronen Herr zu werden, scheiterte aber kläglich. So leistete die Witwe Juan Peróns auch kaum Widerstand, als sie und führende Regierungsmitglieder durch das Militär ins Exil gezwungen wurden.
General Jorge Videla als führender Putschist kündigte einen Prozess nationaler Reorganisation an und begann sofort mit Repressionsmaßnahmen. Ins Auge gefasst hatte er hierbei insbesondere linke Intellektuelle, Studenten, Kommunisten, Juden und Journalisten. In Nacht-und-Nebel-Aktionen wurden diese „Subversiven“ entführt. Sie verschwanden ohne ein Lebenszeichen. Die Familien erfuhren oft nicht, was mit ihren Töchtern, Söhnen oder Eltern geschehen war. Sie wurden in geheime Folterzentren verschleppt, in denen man sie tage-, wochen- oder gar monatelang quälte, vorgeblich, um Namen von Verbündeten oder Sympathisanten zu erfahren. Unter den Gefangenen waren auch Schwangere, die in abgetrennte Räume gebracht wurden. Gefesselt und mit verbundenen Augen warteten sie, isoliert von den anderen Gefangenen, auf die Geburt. Einige von ihnen wurden für medizinische Experimente missbraucht. Ihre Neugeborenen bekamen die Frauen nicht zu sehen. Viele der Mütter wurden wohl auf den berüchtigten Todesflügen ermordet – sie wurden betäubt, zusammen mit anderen Gefangenen in ein Flugzeug gebracht und über dem Atlantik ins Wasser geworfen. Andere Frauen wurden erschossen und ihr Unterleib verstümmelt, damit man nicht mehr erkennen konnte, dass sie ein Kind geboren hatten. So auch Laura Carlotto. Ihre Leiche wurde am 25. August 1978 an ihre Mutter Estela übergeben. Etwa einen Monat zuvor war Estelas Enkel Ignacio zur Welt gekommen.
Die in Haft geborenen Kinder erhielten eine gefälschte Geburtsurkunde und wurden mit dieser von regimetreuen Familien adoptiert – wohl auf Drängen der katholischen Kirche, die zwar die Todesflüge, nicht aber die Ermordung der Kinder absegnete. „Sucht nach dem Baby im Waisenheim“, ließ Laura ihrer Mutter durch eine andere Inhaftierte ausrichten, „und wenn ihr das Kind findet und es ein Junge ist, nennt ihn wie meinen Ehemann, Guido.“ Auch Lauras Mann gehörte zu den Verschwundenen.
Nunca Mas
Bereits 1977 fand sich eine Gruppe von Frauen zusammen, die nach ihren Enkeln suchten. Die Abuelas de Plaza de Mayo kamen jeden Donnerstag vor dem Präsidentenpalast in Buenos Aires zusammen, um mit inzwischen ikonischen weißen Tüchern im Haar zu demonstrieren. Auch Estela schloss sich ihnen 1979 an; seit 1989 ist sie die Vorsitzende der NGO. Doch ihre Suche blieb ergebnislos – vorerst.
Mit der Niederlage gegen Großbritannien im Falklandkrieg endete 1983 auch die Militärjunta, die eine Spur der Verwüstung hinterlassen hatte: Offizielle Schätzungen gehen von 10.000 bis 30.000 Ermordeten aus. Trotzdem behielt das Militär einen großen Einfluss in der jungen Demokratie. Der 1983 gewählte Präsident Alfonsín machte sich zunächst ehrgeizig daran, die Jahre des Terrors aufzuarbeiten: Eilig berief er eine „Wahrheitskomission“ ein, bestehend vor allem aus argentinischen Intellektuellen, die die Verbrechen der Militärjunta aufarbeiten sollte. Ihr erster Bericht unter dem Titel „Nunca Mas“ (dt.: Nie mehr) aus dem Jahr 1984 schildert detailliert die Schicksale einzelner „Verschwundener“. So sehr Alfonsín auch an der Aufarbeitung der Verbrechen der vergangenen Jahre gelegen war, hing doch stets das Damoklesschwert eines neuen Putsches über der jungen argentinischen Demokratie: Das Militär hatte noch immer großen Einfluss auf das Staatsgeschehen und drohte unverhohlen, die Regierung zu stürzen. Noch im selben Jahr kam der Präsident den Mitgliedern der Streitkräfte entgegen und initiierte zwei Gesetze, die einer Amnestie gleichkamen.
Das entsprach auch dem Wunsch eines Großteils der Bevölkerung. Sie wollte sich auf den Wiederaufbau des Landes und die Zukunft konzentrieren; die Vergangenheitsbewältigung sollte die Entwicklung nicht hemmen. Einzig der Kindesraub stieß auf breite Ablehnung – selbst Militärs und ihre treuen Anhänger verdammten ihn. So kam es wohl auch, dass die Fälschung von Dokumenten wie Adoptionsurkunden von der Amnestie ausgenommen blieb.
Deswegen entschieden sich die Großmütter von Anfang an – anders als andere Widerstandsgruppen – mit der Regierung zu kooperieren. Sie nutzten ihren Einfluss, um Druck auszuüben: Auf ihre Initiative hin wurde 1987 ein Gesetz auf den Weg gebracht, das die Einrichtung einer nationalen Datenbank für die Erfassung genetischer Informationen ermöglichte. Seitdem werden hier zentral die DNA-Proben all jener verwahrt, die ein Familienmitglied vermissen oder davon ausgehen, das Kind einer „Verschwundenen“ zu sein. Für ihren Zweck fahren die Großmütter manchmal quer durch das Land, um DNA-Proben einzusammeln. Die Datenbank sollte es auch den Richtern vereinfachen, an Blutproben zu kommen. Allerdings stießen die Bemühungen der Abuelas bis Ende der 1980er Jahre auf starken Widerstand in der Justiz – Verfahren wurden verschleppt oder notwendige Gen-Tests nicht angeordnet. Erst mit der Verabschiedung der UN-Kinderrechtskonvention 1991, die dem Kind unter anderem ein Recht auf Identität und Kenntnis der Abstammung zusprach, wendete sich das Blatt langsam.
Lange diente der Vorwurf des Kindesraubes daher dazu, Strafverfahren anregen zu können. Der Initiative der Großmütter ist es zu verdanken, dass General Videla Ende 1996 deswegen vor Gericht gestellt wurde: Ihm wurde vorgeworfen, die Zwangsadoptionen mitorganisiert zu haben.
Umstrittene DNA-Tests
Die rastlose Suche der Großmütter machte auch vor den Mächtigsten im Land nicht halt, unter anderem traf es Herrera de Noble. Sie ist Eigentümerin der größten Tageszeitung des Landes. Denn Mitte der 1990er Jahre äußerten die Abuelas den Verdacht, dass es sich bei Marcela und Felipe de Noble um die leiblichen Kinder von Verschwundenen handeln könnte. Ihre Adoptivmutter Herrera de Noble bestritt jedoch den Vorwurf und die Angelegenheit wurde zunächst ruhen gelassen. Doch 2001 tauchten neue Beweise auf, die Zweifel an der offiziellen Adoptionsgeschichte aufkommen ließen. Daher erging im Jahr darauf eine gerichtliche Anordnung, die den Geschwistern eine DNA-Probe auferlegte. Die beiden wehrten sich vehement: Sie fühlten sich dazu psychisch nicht in der Lage. Herrera de Noble wurde daraufhin unter dem Vorwurf, die Adoptionspapiere gefälscht zu haben, in Untersuchungshaft genommen. Nach ihrer Entlassung wertete sie öffentlich ihre Verhaftung als Angriff auf die unabhängige Presse Argentiniens. Die Vorwürfe gegen sie verklangen zunächst ohne merkliche Konsequenzen.
Dies änderte sich jedoch, als Clarín, die Tageszeitung der de Nobles begann, gegen die Präsidentin Cristina Kirchner Partei zu ergreifen. Deren verstorbener Ehemann Néstor Kirchner war 2003 zum Präsidenten gewählt worden. In seiner Amtszeit wurden die Verbrechen der Militärjunta erneut thematisiert, die bis dato geltenden Amnestiegesetze für verfassungswidrig erklärt und ranghohe Militärs juristisch zur Verantwortung gezogen.
Cristina Kirchner, 2007 selbst zur Präsidentin gewählt, führte die Politik ihres Ehemanns und Amtsvorgängers fort. So wurden in ihrer ersten Amtszeit Gesetze erlassen, die es erlaubten, DNA von potentiellen Kindern Verschwundener bei dringendem Verdacht auch zwangsweise zu entnehmen. Die Suche nach der Wahrheit und der Versuch, die häufig noch immer nicht aufgeklärten Verbrechen der Militärdiktatur aufzuarbeiten, stünden über dem individuellen Recht auf Privatsphäre, lautete die Begründung. Dieses Gesetz war ein Frontalangriff auf die de Nobles. „Wir wurden behandelt wie Schwerverbrecher!“, sagte Felipe, als seine Kleidung beschlagnahmt wurde: „Es gab nie konkrete Beweise dafür, dass wir die Kinder von Verschwundenen sind, die politische Instrumentalisierung unserer Geschichte scheint ungerecht.“ Spätestens hier zeigt sich die politische Sprengkraft, die das neue Gesetz in sich hatte. Die Großmütter jedoch rückten von ihrer Unterstützung für Kirchner nicht ab. Zu groß war die Angst, alles zu verlieren, was sie erreicht haben, sollte eine andere Regierung an die Macht kommen.
Doch für viele der Enkel, die inzwischen häufig selbst schon über dreißig sind, ist es eine Qual, ihre ganze Identität in Frage stellen zu müssen. „Wie viele andere Kinder kennen wir unsere biologische Identität nicht, aber wie jeder andere haben wir im Verlauf unseres Lebens eine eigene Identität geformt“, äußerten sich auch die Kinder von Herrera de Noble. Sogar Julio Strassera, der als Staatsanwalt die Ermittlungen gegen ehemalige Juntamitglieder geleitet hatte, sieht das Gesetz kritisch: „Wenn ein Erwachsener seine Abstammung nicht kennen möchte, muss das respektiert werden“, sagte er in einem Zeitungsinterview. Für viele Betroffene steht noch mehr auf dem Spiel als die Frage der Identität: Einige Adoptiveltern waren aktiv an der Ermordung der leiblichen Eltern beteiligt, andere wussten zumindest davon. Ihnen drohen hohe Haftstrafen.
„Die Wahrheit ist weder gut noch böse“
Ignacio Hurban, heute Guido, entschied sich freiwillig, seine DNA der Datenbank zu geben. Als sich wenig später herausstellte, dass er der Sohn von Laura Carlotto ist, war er bereits das 114. Kind, das von den Großmüttern zu seiner biologischen Familie „zurückgebracht“ wurde. „Mir geht es gut mit der Wahrheit, die zu mir gekommen ist, und ich bin glücklich“, gab Ignacio auf einer Pressekonferenz zu Protokoll. Seine Entscheidung sei nicht nur eine Frage der eigenen Identität, sondern auch ein Beitrag zum kollektiven Gedächtnis Argentiniens gewesen. Seine Großmutter Estela erlebt nach 36 Jahren rastloser Suche nun ihr persönliches Happy End. Die leiblichen Eltern von Felipe und Marcela de Noble sind hingegen bis heute nicht gefunden worden, obwohl die Geschwister ihre DNA-Proben nun freiwillig an die Datenbank gegeben haben.
Seit 1999 gibt es in Argentinien ein „Recht auf Wahrheit“: Es soll den Angehörigen der Verschwundenen ermöglichen, die Mühlen der Justiz in Bewegung zu setzen, um etwas über das Schicksal ihrer Verwandten zu erfahren. Auf diesen verfassungsrechtlich verankerten Anspruch scheint sich auch Estela de Carlotto zu berufen: „Die Wahrheit ist weder gut noch böse. Es ist die Wahrheit und Menschen müssen sie kennen“, so die Vorsitzende der Abuelas.
Dieser Standpunkt mag für die Aufarbeitung der Terrorherrschaft zuträglich sein, doch wird Vergangenheitsbewältigung auf dem Rücken einer Generation ausgetragen, die an den Geschehnissen vollkommen unbeteiligt war; deren einziges „Vergehen“ die Umstände ihrer Geburt ist. Der erbitterte Kampf um die Deutungshoheit hat die Kraft, Identitäten ein zweites Mal zu zerstören.
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