Donnernd schlägt die Brandung des ruhelosen Ozeans an die schroffe Küste der Normandie. Die mächtigen Wogen brechen in schwerem Rhythmus am grauen Kalkgestein und scheinen nach mir zu tasten. Der Atlantik streckt seine feuchte, atavistische Hand nach mir aus. Ich brauche sie nur noch zu greifen, zu befühlen, und dann ihren wässrigen Halt zu verlieren, um mit einer letzten infantilen Gebärde der Vertrautheit zu versinken.
von gonzo
Der Wind hat aufgefrischt, es ist zu kalt für einen Spätsommernachmittag. Ich bin wieder zwölf Jahre alt, und in Gedanken stehe ich noch einmal an dem menschenleeren Strand in Frankreich. Ich habe gerade erfahren, dass meine Eltern bei einem Autounfall gestorben sind, in Deutschland, hunderte Kilometer entfernt von dem Kind, das allein auf einem morschen Bootssteg steht.
Aus der Ferne betrachtet könnte er ein ganz normaler Junge sein, der zum ersten Mal die Unendlichkeit des Meeres bestaunt und kleine, flache Kieselsteine über das fast schwarze Wasser flippen lässt. Doch meine Hände sind zu Fäusten geballt und die Gesichtszüge sind eine Spur zu ernst. Im fahlen Geisterlicht des Tages wirken sie wie die mutlose Miene eines alten Mannes.
Meine Ferienreise ist zu Ende. Ich werde mich von Babette und Pierre verabschieden, in ein Flugzeug steigen und zurück in ein Land fliegen, in dem ich nun keine Heimat mehr habe. Ich werde zu meiner ersten Beerdigung gehen. Ich werde wieder die Schule besuchen und irgendwann einen guten Abschluss machen. Ich werde wieder lachen können und ein nettes Mädchen kennenlernen. Ich werde studieren und heiraten und wunderbare Kinder bekommen. Ich werde ein Haus haben und einen Garten und einen Hund und irgendwann, als schlohhaariger Großvater, fahre ich mit meiner Familie zurück an diesen Strand. Und dann erzähle ich ihr von der Endlichkeit des Ozeans. Und von dem blassen Jungen, der ein wenig zu ernst für sein Alter blickte.
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