Lieber Pendeln als Lobeda

Warum Jenaer Studenten nicht in Jena wohnen wollen

von Alice

Alle zwei Stunden quält sich ein zähflüssiger Strom von Menschen die Westbahnhofstraße hinunter und erst unten am Holzmarkt ist nicht mehr deutlich sichtbar, dass sich soeben wieder ein Zug aus Erfurt und Weimar in Jena leer geschwappt hat. Es sind Pendler. Studenten, über die sich ausgeschlafene Damenviertler aufregen, wenn es mal wieder um fünf Cent mehr im Nahverkehrsticket geht. Die Studenten, die von Mikrosoziologieprofessoren getadelt werden, weil sie die 20-Uhr-Spätvorlesung schon fünf Minuten eher verlassen, um noch im Stechschritt den letzten Zug vor Mitternacht zu erwischen. Wer A sagt, sollte auch B sagen…

Keine Zahlen
Wie viele Jenaer Studenten kein Bett in Jena haben, erfasst keine offizielle Statistik. Von den etwa 19.000 Studenten der FSU stammen immerhin 11.000 aus Thüringen, nur 2.000 holen sich halbjährlich die Jenaer Hauptwohnsitzprämie ab. Irgendwo dazwischen bewegt sich die Zahl der Pendler. Es sind mit Sicherheit mehrere Tausend Studenten, die weiterhin bei ihren Eltern, Großeltern, mit ihrem Kind oder in einer WG in den billigeren Nachbarorten Thüringens leben. Gründe gegen Jena gibt es viele. Freiwillig ist die Entscheidung nicht immer.

Kein Geld
Stefanie wohnt schon die gesamte Studienzeit über weit entfernt bei ihrer Mutter in der Platte. Das BAföG, von dem der theoretisch zu zahlende Unterhalt ihres Vaters abgezogen wurde, reichte für Lebensunterhalt und Zimmer in Jena nicht aus. Sie hat sich die zwei Stunden täglicher Zugreise und die fröhlichen Verlängerungen wegen jeder Schneeflocke nicht ausgesucht. Den Studienort auch nicht. Das war die ZVS.

Keine Ruhe
Sandra hatte bereits eine günstige Traumwohnung in Jena – und zog trotzdem für ihr letztes Unijahr nach Weimar. Nach einem Auslandssemester in Polen fühlte sich Jena zu eng an. „In Krakau musste ich nicht mehr alle Leute genau angucken, damit ich nicht verpasse jemanden zu grüßen. Weimar ist entspannter als Jena und ich genieße die Anonymität.“ Die Weimarer Mieten sind günstiger, Zuganbindung und Semesterticket machen das Pendeln einfach. „Gestresst bin ich nur an sehr langen Arbeitstagen, Wartezeiten verbringe ich mit Kaffeepausen mit meinen Jenaer Freunden oder mit dem Selbststudium. Solange ich in Jena bin, bin ich fleißig in der ThULB. Und wenn ich in Weimar aus dem Zug steige, dann habe ich Feierabend.“

Katrin ist schon das gesamte Hauptstudium über Tutorin. Gerade zu Beginn der Wintersemester kann man mit ihr selten in Ruhe in der Cafeteria oder Mensa sitzen, ohne dass sie von Erstis auf die Rechenaufgabe zum nächsten Tutorium angesprochen wird. Besucht man sie auf einen Kaffee in Weimar, bleibt das aus. Vorher hat sie in Leipzig studiert. Sie weiß also, dass es in Großstädten ganz normal ist, dass nicht jeder direkt auf dem Campus wohnen kann, sondern  im Normalfall einige Kilometer Weg zu bewältigen hat. Trotzdem hat sie zwei erfolglose Anläufe genommen, in Jena eine Wohnung zu finden. „Ich bin es gewohnt allein zu wohnen und wollte keine WG mehr. Aber alle bezahlbaren Einraumwohnungen in Jena waren richtige Löcher. Und von Lobeda aus hätte ich fast schon wieder die gleiche Fahrtzeit wie von Weimar. Jena hat schon seine Vorzüge, aber der Umzug hat sich irgendwann nicht mehr gelohnt.“ Katrin mag Weimar. Die Wartezeiten und die Zugfahrt nutzt sie zum Arbeiten und wenn sie sowieso in Jena ist, ist sie „weniger verleitet, schlechte Vorlesungen zu schwänzen“. In Jena abends weg zu gehen sei auch kein Problem – dann schläft sie bei Freunden. Man müsse sich halt nur vorher schon überlegen, was man über den Tag so macht.
Kein Verständnis
Man könnte behaupten, Katrin und Sandra haben eine Luxusentscheidung getroffen. Gegen Jena. Bezahlbar nur durch das Semesterticket, das alle anderen Studenten, teilweise gegen ihren Willen, mittragen müssen. Was Jenaer davon haben, dass andere Studenten lieber in schickeren oder billigeren Orten wohnen, wird oft übersehen: Der Jenaer Wohnraum ist nahezu komplett ausgelastet. Würde die Pendlerflut nachts im kleinen Jena bleiben wollen – Stadt und Mieten würden endgültig explodieren.


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