Leben, Version 2.0

Von Klick-Höllen und kollektivem Gezwitscher

von Yeke

Am 29. Dezember 2008 starteten nicht nur F16-Kampfjets und Apache-Helikopter der Israelischen Streitkräfte (IDF), sondern auch deren eigener YouTube-Kanal. Bereits zwei Tage nach Beginn der „Operation Gegossenes Blei“ versorgte die IDF so die User der Videoplattform mit Videoblogs israelischer Offiziere und Bildern klinisch perfekter Bombardements im Gazastreifen. Mit 694.000 Aufrufen erwiesen sich dabei die Bilder der Bombardierung eines Waffentransports als besonders erfolgreich. Dass die über 4000 Bewertungen nur zu vier („Echt cool“) von fünf möglichen Sternen („Genial!“) gereicht haben, darf als marginaler Wermutstropfen betrachtet werden.
Überraschend ist dieser Schritt jedenfalls kaum, schließlich wurde mit Barack Obama nach Ansicht einiger Beobachter vor nicht allzu langer Zeit Amerikas erster YouTube-Präsident vereidigt. Längst weiß auch die Politik, dass Videoplattformen mehr als nur Copyright-Verletzungen und Homevideos von süßen Kätzchen zu bieten haben. Als im Januar ein Airbus auf dem Hudson River notwasserte, landete die Meldung nicht zuerst im CNN-Ticker. Die ersten Bilder des Unglücks wurden über Twitter verbreitet.
Seit knapp vier Jahren geistert nun die Mär von der Web 2.0-Revolution durch gedruckte und digitale Blätterwälder. Damals hatte der Artikel „What is Web 2.0?“ des Softwareentwicklers und Autors Tim O‘Reilly für die Popularisierung des Begriffes gesorgt. Über erfolgreiche Geschäftsmodelle nach dem Zusammenbruch der New Economy wurde da geschrieben, über Firmen wie eBay und Amazon, aber auch über die nicht-kommerzielle Grundlage unzähliger Hausarbeiten: Wikipedia. Gemeinsam ist diesen Projekten das Vertrauen auf die „kollektive Intelligenz“. Während klassische Medien die Partizipation ihres Publikums auf Leserbriefe und Call-In-Shows reduzieren, gestalten Web 2.0-Nutzer den Inhalt ihrer Lieblingswebseiten mit. Sie schreiben Rezensionen für ihren Stamm-Onlineshop, bieten die peinlichen Ausgeburten ihrer CD-Sammlung zum weltweiten Verkauf an oder bereichern den Informationshighway um Blogs über ihr persönliches Spezialgebiet wie etwa weihnachtliche Kochrezepte oder Anekdoten aus dem Supermarkt nebenan.
Ohne Kenntnisse von Programmiersprachen und mit einem Zugang zum World Wide Web kann sich heute jeder eine Internetpräsenz zulegen und dort mit Hilfe von Links und Kommentaren Teil des grenzenlosen Bloggernetzwerkes sein. Das ist einerseits ein idealer Nährboden für unabhängige, nicht-professionelle Graswurzel-Journalisten, deren Artikel im Idealfall nicht von Medienkonzernen oder mit Rücksicht auf die Werbekundschaft publiziert werden. Web 2.0, das ist zuweilen aber auch die Überdosis Kommunikation, in der clever gesetzte Schlagworte nicht selten mehr wert sind als originelle Inhalte. Fallen einem die Bookmark-Buttons und Google-Ads ins Auge, bevor überhaupt Titel und Thema der Seite feststellbar sind, wendet sich der Cursor schon mal überspannt zuckend dem nächsten Tab im Browser zu. Da quält man sich dann unzählige Seiten der Blogsearch, während im studiVZ die x-te Kettenmail das Postfach zumüllt und der Feedreader nach zehn Minuten immer noch nicht aufhört, wild blinkend neue Posts zu melden.
Dem Ideal kollektiver Intelligenz stehen eben auch kollektive Inkompetenz, kollektive Kommerzialität und das vielerorts gehasste Kollektiv der Trolle gegenüber. Die Wirklichkeit gewordenen Fabelwesen waren der New York Times im August letzten Jahres immerhin einen siebenseitigen Artikel wert. Doch es gibt auch immer noch diese kleinen Entdeckungen, deren dauerhafter Wert dem Web 2.0-Partizipant die Energie verleiht, über alle Yiggs, Diggs und Wongs hinwegzusehen. Dort steht tatsächlich noch völlig unspektakulär der Inhalt im Vordergrund, egal ob er nun als wertvolle Ergänzung der Mainstream-Medien oder als Portal für very-very-special-interest-Themen (die ansonsten höchstens über teure Fachzeitschriften ihre Nische abdecken) dient. Auf gewissen Seiten gibt es ihn noch: den je nach Bedarf trockenen oder mit einem Schuss Humor servierten, auf jeden Fall aber individuellen Stil, gepaart mit ungewohnten Blickwinkeln und kritischem Hinterfragen. In all dem Chaos ungefilterter Informationsein- und -vielfalt ist Medienkompetenz der Schlüssel zur Erkenntnis. Wer sucht, der wird auch bei YouTube, WordPress oder Wikipedia irgendwann fündig – solange wie auch IDF und Co. nur einfache User bleiben.


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