von Michael Krukowski und Cagri Dörter
Verlierst Du die Fassung, wenn dein Zug mal fünf Minuten Verspätung hat, die Telekom-Warteschleife bereits zum dritten Mal „Hello Holla“ durch deine Gehörgänge jagt oder die Warteschlange am Sparkassenschalter einfach kein Ende nehmen will? Dann möchte ich dir von einem Besuch Nordnorwegens eher abraten.
Vor rund 15 Monaten beendeten wir unser Studium in Jena und beschlossen auszuwandern. Und wenn man sich erst einmal zu einem solchen Schritt durchgerungen hat, dann geht man ihn richtig. Wir entschieden uns für den kleinen Ort Vardø im nördlichsten Norden – ohne zu wissen, was uns da eigentlich erwartet.
Ta det med ro!
Generell ist es für Ausländer nicht leicht, sich hier einzuleben. Es dauert ein gutes Stück, bis man mit den Einheimischen warm wird – nicht nur aufgrund der Außentemperaturen. „Du musst unbedingt vom Mañana-Land berichten“, riet mir eine finnische Kollegin. Nun gut, diese Anspielung ist sicherlich nicht besonders aufschlussreich, wenn es darum geht, über die Finnmark, Norwegens nördlichstes Fylke zu berichten. Aber sie verdeutlicht auf verkürzte Weise, wie die Einheimischen hier ticken: „Ta det med ro! – Nimm’s gelassen!“
Schwermütige Erzählungen
Einmal im Monat sieht sich der Pfarrer in Vardø genötigt, die hiesige Kirchturmuhr nachjustieren zu lassen – nach nur wenigen Tagen schlägt sie aber erneut mit akademischem Viertel. Die knapp 2.200 Inselbewohner Norwegens östlichster und Europas einziger Stadt in der arktischen Klimazone nehmen es nicht sehr genau mit der Zeit. Es gibt sie im Überfluss. Ein Blick auf all die verlassenen Fischfabriken, eingeschlagenen Schaufenster oder verwaisten Holzhäuser mitsamt den verwilderten und zugemüllten Hinterhöfen reicht, um zu erkennen, wie stark sie Nordnorwegens einst bedeutendster Fischereistadt zugesetzt hat. Schwermütige Erzählungen über die „guten alten Tage“ sind bei den meist älteren Einheimischen fast ebenso beliebt wie angeregte Wetterdiskussionen.
Gemeint ist jene goldene Ära des Fischhandels, die 1740 mit den Pomoren ihren Anfang nahm und deren Ende mit der deutschen Besatzung genau 200 Jahre später bereits besiegelt schien. Letztere hat bis heute tiefe Narben im kollektiven Gedächtnis der Bevölkerung und im Antlitz der Natur hinterlassen. Aber Norweger gelten als zutiefst patriotisch und fühlen sich nicht nur aufgrund der langen, dunklen Winter härter als Kruppstahl. Nun verhelfen die Folgen der Globalisierung den Sehnsüchten nach der guten alten Zeit zu neuer Konjunktur, in der die Endverarbeitung des Fischs noch nicht nach Asien outgesourct war, als Vardø gut dreimal so viele Einwohner hatte, den Ausgangspunkt von Nansens Polarexpeditionen markierte, Norwegens Nationalbank beheimatete oder durch den ersten norwegischen Unterwassertunnel von sich Reden machte – nicht mit Norwegens höchster Arbeitslosigkeit und Abwanderungsrate. „Havet gir og havet tar“, sagt ein altes norwegisches Sprichwort, „Das Meer gibt und das Meer nimmt.“ Willkommen in einer neuen Zeit.
Spirituelle Einsamkeit
Mit einer Fläche dreimal so groß wie Thüringen und rund 72.000 Einwohnern ist die Finnmark die größte und einsamste Provinz Norwegens. Auf jeden Quadratkilometer kommen nur 1,5 Einwohner – ein Promille des thüringischen Werts. Die Zahlen verdeutlichen, dass Nordnorwegen neben der unsagbar schönen wie rauen Natur eine fast schon spirituelle Einsamkeit zu bieten hat. Im Ernstfall kann sich das jedoch schnell zum Nachteil auswirken, gibt es in der gesamten Finnmark doch lediglich zwei Krankenhäuser. Deshalb stellt das Flugzeug auch ein unverzichtbares Verkehrs- und Transportmittel dar, günstiges Wetter vorausgesetzt. Die vor über 100 Jahren eingeführten Hurtigruten – vormals eine Postschifflinie, heute hauptsächlich Touristendampfer für gutbetuchte Rentner – haben auch weiterhin eine große Bedeutung.
Ansonsten liebt der waschechte Nordmann sein Auto. Selbst die höchsten Benzinpreise Europas halten ihn nicht davon ab, ausgiebig von seinem Galopper Gebrauch zu machen. Deutsch oder amerikanisch muss es sein, und wer etwas auf sich hält, zählt gleich beides zu seinem Fuhrpark. Typischerweise lässt man den Motor unabhängig von der Jahreszeit während des ausgiebigen Nachbarschaftsgespräches oder Einkaufs laufen. Analog gilt ein solches Verhalten auch für den Gebrauch von Wasserhähnen oder der Wohnzimmerbeleuchtung.
Schuppen im nordischen Nirgendwo
Aber auch der rastende Norweger findet Mittel und Wege, nicht erst Rost anzusetzen. Traditionell verbringt er die Wochenenden „auf Hütte“. Das sind einfache, meist ohne Strom oder Wasser und in großzügigem Abstand voneinander errichtete Schuppen im nordischen Nirgendwo, zu denen bestenfalls eine Schotterpiste hinführt. Man erreicht sie oft nur querfeldein per Quad, Schneemobil, zu Fuß oder auf Ski. Und so sitzen sie dann jedes Wochenende – im Winter mit atemberaubenden Polarlichtern, im Sommer bei 24-stündigem Sonnenschein – auf Hütte, trimmen sich auf ausgiebigen Touren, angeln oder jagen. Dazu essen sie traditionell Fårikål (Kohleintopf mit Lammfleisch), Königskrabben, Fisch, Schneehühner oder Rentier.
Alles Schmarrn! Zwar stimmt es, dass Hütten auch heutzutage in größtmöglicher Einsamkeit gebaut werden, sodass die erholsame Ruhe allenfalls durch grasende Rentiere oder freilaufende Schafherden gestört wird. Ihre Ausstattung hingegen steht einem modernen Einfamilienhaus in nichts nach, schließlich will man auch am Wochenende seinen festen Ritualen huldigen: Fernsehen, Country-Musik hören und „Grandiosa“-Tiefkühlpizza essen (statistisch erwiesene Lieblingsspeise an Samstagabenden). Norweger gelten als ausgesprochen amerikanisiert, ihre Kinder dominieren die europäischen Gewichtsklassen.
Erfroren unter freiem Himmel
Trotz der horrenden Alkoholpreise gelten Norweger als trinkfreudiges Volk, oft wird der Sprit selbst gebrannt. Nicht wenige verloren dadurch ihr Augenlicht, noch mehr erfroren mit stattlichen Blutalkoholwerten unter freiem Himmel. Im Fachgeschäft findet sich alles, was der Hobbybrenner benötigt. Verkaufsschlager sind große Einliterflaschen, die bereits einen Schluck hochprozentigen Aromazusatz enthalten. Ansonsten kann Bier in jedem Supermarkt bis 20 Uhr (Sa bis 18 Uhr) erworben werden, allerdings schlägt eine 0,5-Liter-Dose mit umgerechnet etwa 2,50 Euro zu Buche. Härterer Stoff kann ausschließlich über das sogenannte Vinmonopol erworben werden. Rotwein und Schnaps sind allerdings so teuer, dass für Hardcore-Trinker nur die Fahrt nach Finnland bleibt, dort ist es ja auch ganz schön.
Apropos Finnland: Meine Arbeitskollegin wird Vardø aufgrund fehlender Jobaussichten Ende des Sommers verlassen. Es wäre für die Stadt bereits die 33. Abwanderung allein in diesem Jahr.
[Michael Krukowski (28) ist Sozialwissenschaftler und sieht inzwischen schon aus wie ein norwegischer Walfänger. Seine Freundin Cagri Dörter (28) ist Zahnärztin und hält es trotz türkischer Wurzeln bisher ganz gut in der arktischen Kälte aus.]
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