Kurden und der armenische Völkermord: eine eindeutige Geschichte?

Ostanatolien – in diesem Gebiet lebten bis ins 20. Jahrhundert fast nur Kurden und Armenier. Das gemeinsame Siedlungsgebiet sorgte jedoch während des Genozids für viele Probleme.

In den Dokumenten zum Völkermord werden die Kurden häufig als marodierende Gruppen dargestellt, als die ärgsten Feinde der deportierten Armenier. Doch wie in der Geschichte so häufig, bewahrheitet sich das Schwarz-Weiß-Denken beim näheren Hinsehen nicht.

von Babs

Ihr seid eigentlich an der armenischen Angelegenheit schuld!“. So äußerte sich der türkische Abgeordnete Yusuf Halaçoğlu im Jahre 2013 in Richtung der Kurden und präsentierte damit eine neue Form der Verdrängung von Verantwortung für den Genozid an den Armeniern. Und doch: In einer offiziellen Stellungnahme entschuldigte sich 2014 die kurdische Gemeinde Deutschland für das, was Kurden im Osmanischen Reich den Armeniern angetan haben. Andere kurdische Gruppierungen – wie zum Beispiel die PKK im Jahre 1997 – waren diesen Schritt schon lange gegangen.Ferhad Seyder, Professor für kurdische Studien an der Universität Erfurt, lehnt diese Entschuldigungen jedoch ab: Es sei ahistorisch, die Kurden für den Völkermord an der Armeniern verantwortlich zu machen. „Die Kurden“, als eine ethnische Einheit, existierten zur Zeit des Osmanischen Reiches noch gar nicht. Einige waren regierungstreu und loyal, andere standen der jungtürkischen Bewegung mit großer Skepsis gegenüber. Ein Blick in die Geschichte lässt erkennen, welchen Einfluss diese Diversität auf das Verhalten der Kurden während des Völkermordes hatte.

Kavalleristen im Auftrag des Sultans

In Ostanatolien lebten im ausgehenden 19. Jahrhundert kaum Türken. Vielmehr war dieser Teil des Osmanischen Reiches von Kurden und Armeniern besiedelt, die dort größtenteils in der feudalen Landwirtschaft organisiert waren. Dabei waren die christlichen Armenier, die keine Waffen tragen durften, häufig kurdischen Stammesführern als Vasallen unterstellt. Um nach dem Krieg mit Russland 1878 die Grenzen zu sichern und gleichzeitig die Loyalität der im Osten angesiedelten Kurden zu stärken, gründete Sultan Abdülhamid II. im Jahre 1891 die so genannte Hamidiye, eine Kavallerie, deren Soldaten Straffreiheit bei Plünderungen zugesprochen wurde. Die Regimenter wurden mit modernen Waffen ausgestattet und galten deswegen als militärische Eliteeinheit. Die Stämme, aus denen die Soldaten rekrutiert wurden, wurden privilegiert: sie genossen Steuerfreiheit und ihre Angehörigen wurden von der Wehrpflicht befreit. Nur dreizehn der 35 kurdischen Stämme Ostanatoliens kamen diese Vorteile jedoch zugute. Ihre neugewonnene Macht nutzten sie, um Raubzüge und Kriege gegen die übrige Bevölkerung durchzuführen. Gleichzeitig begannen sich die Armenier in Ostanatolien gegen die doppelten Steuerabgaben – an ihre kurdischen Lehnsherren und an den osmanischen Staat – zu wehren. Diese Aufstände wurden durch die Hamidiye-Einheiten brutal niedergeschlagen. So war schon vor dem Völkermord das Verhältnis zwischen den Einwohnern angespannt; die ehemals klaren feudalen Strukturen verschwammen.

Kurden definieren sich über ihre ethnische Zugehörigkeit, sind aber überwiegend sunnitische Muslime. Diese waren lange Zeit Verbündete des Osmanischen Reichs; im Gegensatz zu den dort lebenden Aleviten. Ein religionsunabhängiges Nationalgefühl entwickelte sich erst mit Ende des Ersten Weltkrieges. Heute stellen sie mit einem Bevölkerungsanteil von 18 Prozent die größte
Minderheit der Türkei dar.

Daher war auch das seit 1908 herrschende jungtürkische Regime selbst kaum in der Lage, die komplizierten Machtverhältnisse des östlichen Teils ihres Reiches zu überblicken. Um vor Ort agieren zu können, wurden deswegen die regierungstreuen, zuvor zunächst aufgelösten Hamidiye als Kavallerieeinheiten unter neuem Namen reaktiviert. Während des Völkermordes 1915 bildeten diese paramilitärischen Kommandos Teile jener Sondereinheiten, die mit der Ermordung der Deportierten beauftragt wurden. Wie wichtig diese überwiegend kurdischen Einheiten bei der Durchführung des Genozids waren, kann man am Beispiel des Gebietes Diyabakir erkennen. In dieser Stadt, deren Bevölkerung vor 1915 fast zur Hälfte aus Armeniern bestand, wurden wohl viele der Massaker von den Veteranen der Hamidiye verrichtet – die Einheiten waren nur zu diesem Zwecke in die Stadt gebracht worden. In der Aufarbeitung wird bis heute davon ausgegangen, dass diese seit Jahrzehnten regierungsfreundlichen Gruppen auf Anweisung der lokalen Behörden agierten. Auch an den Deportationen der Armenier ab dem Jahre 1915 wirkten Minderheiten mit: Diese Märsche, die häufig tödlich endeten, wurden von der osmanischen Gendarmerie begleitet. Wolfgang Gust, Experte für den Völkermord an den Armeniern, betont jedoch, dass es sich hierbei nicht um ausgebildete Kräfte handelte. Reguläre Soldaten waren gleich zu Beginn des Ersten Weltkrieges an die Ostfront geschickt worden, um die Grenze zu Russland zu verteidigen. Um daher Personal für die Begleitung zu finden, versprach der osmanische Staat allen Häftlingen, die sich der Gendarmerie anschlossen, eine Amnestie. Jedoch bestanden diese „Schutztruppen“ nicht nur aus Sträflingen – auch aus Russland ausgewiesene Tscherkessen bewachten die Deportationszüge.

Kurden – Feind und Helfer

Diese Begleittruppen erwiesen sich häufig als die ärgsten Feinde der Bewachten: Entweder ließen sie zu, dass während der Märsche Übergriffe auf die Deportierten stattfanden – einige überlebende Armenier berichteten, dass sie von Kurden überfallen wurden; oder aber sie verkauften die Deportierten an kurdische Stämme, die ihre Opfer erst umbrachten, um sie dann zu plündern. Häufig hatten die Frauen Wertgegenstände an ihrem Körper versteckt oder sie geschluckt – einzelne Leichen, so erklärt Wolfgang Gust, wurden verbrannt, um Gold zu finden. In diesen Fällen gehen mehrere Experten davon aus, dass es sich entweder um gezielte Instrumentalisierungen der regierungstreuen Kurdenstämme oder um pure Gier und Opportunismus gehandelt hat. Ferhad Seyder vertritt die Ansicht, dass in diesen Fällen der Kollaboration politische Motive kaum eine Rolle gespielt hätten. Die Bedeutung der Religion für die Mitwirkung am Genozid ist hingegen umstritten: Auch wenn der Nationalismus der regierenden Jungtürken nicht primär islamisch fundiert war, spielte die Religion in einigen Fällen eine Rolle. Als Grund für die Beteiligung einiger Kurden wird auch die religiöse Intoleranz genannt, die durch die Behörden propagiert wurde.

Die Jesiden sind eine der wenigen nicht-islamischen kurdischen Gruppen. Ihre monotheistische und mündlich überlieferte Religion ist eine der ältesten der Welt. Schon immer litten sie unter Verfolgungen und leben daher zum großen Teil in der Diaspora. Die gemeinsame Leidensgeschichte mit den Armeniern während des Ersten Weltkrieges bot eine Grundlage für das Zusammenleben in Armenien.

Die Überzeugung, dass Muslime mehr wert seien als Christen, dürfte ein Grund für die Teilnahme auch kurdischer geistlicher Würdenträger am Genozid gewesen sein, so Hamit Borzarslan, Historiker an der Pariser Hochschule EHESS. Dies wird allerdings von Uğur Üngör vom Institut für Kriegs-, Holocaust- und Genozidstudien in Amsterdam bestritten: Viele geistliche Oberhäupter hätten den Genozid für eine Schande gehalten, die der Religion zuwiderliefe. So half der Theologe Said Nursî armenischen Frauen und Kindern dabei, über die Grenze nach Russland zu fliehen. Der kurdische Geistliche Scheich Said verhängte einen religiösen Bann über alle Mitwirkenden an den Massakern. Beide Geistliche dürften demnach viele Leben gerettet haben. Doch Üngör fügt hinzu, dass einige Tötungen durchaus mit dem Versprechen einhergegangen seien könnten, für die Tötung eines Ungläubigen in den Himmel zu kommen. Teilweise, und hier sind sich die meisten Forscher einig, war auch die reine Angst eine Motivation zur Kollaboration: Wer Armeniern half oder sie versteckte, wurde ebenfalls umgebracht. Nicht alle jedoch ließen sich durch diese Drohung von der Hilfe abhalten. Insbesondere jene kurdischen Gruppen, die auch unter den Repressionen der Jungtürken litten, wurden zu Rettern der Armenier. So zum Beispiel die kleine Gruppe der Jesiden, deren Anteil an der Gesamtbevölkerung des Osmanischen Reiches verschwindend gering war. Diese kurdische Bevölkerungsgruppe sollte islamisiert werden und jene, die sich widersetzten, wurden marginalisiert. Dennoch boten sie den verfolgten Armeniern während der Massaker Zuflucht. Ebenso als Helfer der Armenier taten sich die alevitischen Kurden aus der Region um Dersim hervor. Die Aleviten, die in den 1890er Jahren auf Grund ihrer Religion diskriminiert worden waren, legten zunächst große Hoffnung in den jungtürkischen Laizismus. Ihre Bestrebungen nach Autonomie liefen jedoch dem Zentralisierungsdrang der neuen Regierung zuwider. Die Region Dersim war schon immer sowohl von Armeniern als auch von Kurden besiedelt gewesen. Teilweise waren deren Familien auch untereinander verheiratet. Als der Genozid begann, boten die alevitischen Kurden ihren armenischen Nachbarn Zuflucht oder organisierten Schlepperdienste, die Verfolgte bis zur russischen Front brachten.

Leugnung, Entschuldigung und Versöhnung

Grund für den aktiven Beistand mag unter anderem auch eine gemeinsame religiöse Erfahrung gewesen sein – Aleviten und Armenier teilten sich in Dersim viele Wallfahrtsorte. Um sich vor den Massakern zu schützen, heirateten armenische Frauen häufiger – nachdem sie konvertierten – einen Aleviten. Nach dem Genozid wurde über diese Ehen meist der Mantel des Schweigens gelegt. Somit gab es in den folgenden Jahren viele Kinder, die lange Zeit nichts von ihren armenischen Wurzeln wussten. Durch die Hilfe ihrer Nachbarn gelang es vielen Armeniern, sich den Gräueltaten des jungtürkischen Staates zu entziehen. Dieser Affront gegen das Osmanische Reich trug die Saat des Hasses in die junge türkische Republik. Kemal Atatürk etwa sah Dersim, das sich auch in den Folgejahren dem staatlichen Zugriff zu entziehen versuchte, als eines der drängendsten Probleme der neuen Türkei an. Von allen befragten Wissenschaftlern wird das spätere Massaker an den Dersim-Kurden 1938 einhellig auch als ein verspäteter Vergeltungsschlag für die Schutzaktionen bezeichnet. Bis zu diesem Zeitpunkt war in der Region eine gemeinsame kurdisch-armenische Erinnerung an den Völkermord wach gehalten worden. Es ist also kaum ein Motiv „der Kurden“ für die Mitwirkung am Völkermord erkennbar. Viel entscheidender als die ethnische Zugehörigkeit ist das Verhältnis, das die Bevölkerungsgruppen schon vor dem Genozid zueinander hatten. Wolfgang Gust differenziert: „Kurden haben mitgemordet und Kurden waren auch die wichtigsten Helfer der Armenier. Nicht wenige Armenier haben überlebt, weil Kurden sie versteckt haben.“

Die Aleviten sind eine sozioreligiöse Gemeinschaft, die sich im Mittelalter in Anatolien gebildet hat. Sie rechnen sich den Schiiten zu und litten deswegen bereits in den Anfangszeiten des Osmanischen Reichs als vermeintliche Häretiker unter Verfolgungen. Bis heute sind sie staatsfern und noch immer von Diskriminierungen betroffen.

Madlen Vartian, stellvertretende Vorsitzende des Zentralrats der Armenier in Deutschland (ZAD), betont, dass sich viele Kurden schon lange mit den Armeniern solidarisieren – nicht erst seit der offiziellen Entschuldigung der kurdischen Gemeinde in Deutschland 2014. Schon lange bestünden Beziehungen zwischen den Armeniern und den Kurden, insbesondere denen alevitischen Glaubens.  Traditionell linke kurdische Parteien und Publikationen befassten sich schon seit einigen Jahren mit dem Thema und haben sich bei den Armeniern entschuldigt. Raffi Kantian, Vorsitzender der Deutsch-Armenischen Gesellschaft, differenziert allerdings: Die Entschuldigungen der Kurden seien ein relativ neues Phänomen. Eine erste wissenschaftliche Tagung zu dem Thema habe in Deutschland erst im Mai 2014 stattgefunden. Dadurch gäbe es kaum Forschung zu Motiven und Mitwirkungsformen am Genozid. „Noch heute ist das Verhältnis zwischen Armeniern und Kurden ambivalent“, stellt auch Madlen Vartian heraus. „Es gibt eine Mehrheit von Kurden, die den Genozid an den Armeniern und die kurdische Beteiligung anerkennen. Allerdings gibt es auch Kurden, die Nutznießer der Vernichtung geworden sind und sich armenisches Eigentum und Grundbesitz durch Mord und Raub angeeignet haben. Die Nachkommen dieser Nutznießer unterstützen vehement die Leugnungspolitik.“  Aber auch die Verleugnung des Genozids durch die Türkei verhindert eine genauere Auseinandersetzung mit dem Thema. „Die Forschung über den Völkermord an den Armeniern ist noch lange nicht so weit wie etwa bei der Shoah“, erklärt Kulturhistoriker Rolf Hosfeld. Er leitet das Lepsiushaus in Potsdam, Forschungs- und Begegnungsstätte zur Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts. „Die Detailmechanismen und -verantwortlichkeiten, auch die Beteiligung der Bevölkerung an der ganzen Sache – da gibt es keine breite Übereinkunft, sondern allenfalls einzelne Forschungsbeiträge.“

AGHET 1915–2015: Die Kurden und der Völkermord | memorique: Genozid und Geschichtsunterricht | Das Deutsche Reich und die Bagdadbahn | klassiquer: Die vierzig Tage des Musa Dagh | Kulturelle Verarbeitung des Völkermords

Redaktioneller Nachtrag (10. Oktober 2015):
Nachdem die im Artikel als Vertreterin des Zentralrats der Armenier in Deutschland (ZAD) zur Wort kommende Frau Madlen Vartian Ende September 2015 auf ihrer privaten Facebook-Seite sunnitische Muslime als „Pack“ verunglimpft hatte, erbaten wir beim ZAD-Vorstand eine Stellungnahme. Uns wurde mitgeteilt, der Verband distanziere sich von dem Posting und man stelle klar, „dass Frau Vartian in dieser Sache nicht für den ZAD und auch nicht für die armenische Gemeinschaft in Deutschland spricht“. Man habe Frau Vartian nahe gelegt, ihr Vorstandsamt niederzulegen. Eine Entscheidung darüber steht noch aus.

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