Schon 14 Monate sind vergangen, seitdem eine yesidische Familie vor dem „Islamischen Staat“ aus ihrer Heimat Sindschar floh. Zuflucht fanden sie in einem Dorf in der Nähe der irakischen Stadt Duhok. unique sprach mit ihnen über ihre Erlebnisse.
von Belind
Ungefähr 650.000 Flüchtlinge harren in den Zeltstädten und Containercamps rund um Duhok aus – deswegen nimmt die nordirakische Stadt, die selbst rund 500.000 Einwohner hat, mittlerweile keine weiteren Flüchtlinge mehr auf. Viele derer, die hier vor dem IS Zuflucht gesucht haben, stammen aus Syrien, mehr noch aus irakischen Gebieten, darunter auch yesidische Kurden. Dakhil und seine 15-köpfige Familie, bestehend aus drei Generationen, flohen im August 2014 aus der irakischen Stadt Sindschar vor den gewalttätigen Islamisten. Sieben Tage lang harrte die yesidische Familie zuvor im Shingal-Gebirge aus, ohne zu wissen, was sie als nächstes tun sollte. Dass sie Duhok erreichten, verdanken sie letztlich der Verteidigungseinheit der PYD, einer syrisch-kurdischen Partei, die der PKK nahesteht. Die Guerillas hatten kurz zuvor einen Korridor zurückerobert, da die Gebirgspässe unter der Kontrolle des IS standen. Sie fuhren durch die syrische Stadt Al Hasaka, zum Grenzübergang bei Simalka, dann über den Fluss Chabur in die Autonome Region Kurdistan im Nordirak.
Dakhil sitzt mir gegenüber, mit seinem großen Schnauzbart, einem Hemd und einer traditionellen Şal, einer weiten kurdischen Hose, und erinnert sich an die Flucht zurück:
Dakhil: Die größte Schwierigkeit war, dass wir ohne Lebensmittel und mit nur wenig Trinkwasser unterwegs waren. Auch Benzin für das Auto war knapp. Es gab keine asphaltierten Straßen und es war beinahe unmöglich, durch die Steppe zu fahren. Auf unserem Weg sahen wir viele andere Menschen, die zu Fuß unterwegs waren. Viele von ihnen starben an Hunger, an Erschöpfung oder verdursteten qualvoll. Während der Flucht wurden wir mehrfach vom IS beschossen. Zum Glück ist mir und meiner Familie nichts passiert. Leider hat es aber viele andere Menschen getroffen.
Während der 51-jährige Vater von den Erlebnissen seiner Familie erzählt, sitzen seine Söhne meist still um ihn herum und hören zu. Es wird dunkler und kühler an diesem Abend, ich spüre bei Dakhil und seinen Söhnen eher Zurückhaltung, während sie auf meine Fragen antworten. Ich möchte wissen, wie ihr Leben vor der Flucht aussah.
Dakhil: Es war friedlich, es hat uns an nichts gefehlt, wir waren eine wohlhabende Familie. Aber wir mussten all unsere Habseligkeiten zurücklassen. Nur das Auto und das, was wir an uns tragen konnten, haben wir mitgenommen. Alles andere ließen wir zurück, da wir zu viel Angst hatten.
Nur ein geringer Teil der yesidischen Kurden konnte mit dem Auto fliehen. Spätestens am Fuß des Bergmassivs mussten auch sie ihre Fahrzeuge stehen lassen. Die vollgepackten Autos waren eine willkommene Beute für den IS.
Wie haben Sie die Angriffe des IS erlebt?
Dakhil: Der IS war plötzlich überall, es gab überall Chaos. Wir wurden regelrecht überrannt. Die Bewohner aus den Nachbardörfern haben uns per Telefon gewarnt. Ihre Töchter und Ehefrauen wurden alle mitgenommen. Viele Männer wurden getötet, Frauen wurden verkauft. Wir haben auch erfahren, dass der IS Geld, Handys und Schmuck eingezogen hat. Uns riet man, so schnell wie möglich zu fliehen.
Von ihren Bekannten und Verwandten, die auch in der kurdischen Peshmerga-Miliz kämpfen, bekommen sie täglich mehrere Nachrichten. Aber konkrete Informationen, ob sie erfolgreich sind oder nicht, haben sie bis jetzt noch nicht in Erfahrung gebracht.
Dakhil und seine Familie hatten dabei das Glück, im Haus der Familie meines Onkels in der Nähe von Duhok unterzukommen. Dakhil hatte für meinen Vater als Maurer beim Bau seines Hauses gearbeitet und man hatte ein freundschaftliches Verhältnis aufgebaut.
Bekommen Sie Unterstützung von den kurdischen Behörden?
Dakhil: Die kurdischen Behörden unterstützen uns nicht, aber wir bekommen viel Rückhalt von der Bevölkerung. Sie ist sehr hilfsbereit und freundlich. Die Hilfsorganisationen der UN haben uns in der Kreisstadt Zawita Nahrungsmittel gegeben, aber seit zwei Monaten kriegen wir nichts mehr.
Tatsächlich ist es seit längerem so, dass alle Flüchtlingscamps rund um die Stadt Duhok überfüllt sind. Auch die Hilfen, die sie von der UNO erhalten, nehmen ab. Zudem hat die Regierung des kurdischen Autonomiegebietes kein Geld mehr für ihre eigenen Beamten in den Behörden und den Universitäten, da die irakische Zentralregierung in Bagdad finanzielle Engpässe hat.
Wie sieht Ihr üblicher Alltag hier in dieser neuen Umgebung aus?
Dakhil: Wir haben keine Arbeit und Beschäftigung und hoffen auf positive Nachrichten aus der Heimat. Es gibt auch kaum Arbeit für mich und die Kinder gehen nicht zur Schule. Mein ältester Sohn war an der Universität in Mosul im zweiten Studienjahr – jetzt verbringt er den ganzen Tag zu Hause. Es ist für ihn nicht möglich hier zu studieren, da die Universität in Duhok seinen Fachbereich nicht anbietet.
Dakhil und zwei seiner Söhne haben vor ihrer Flucht im Baugewerbe gearbeitet. Als Bauern besaßen sie zudem ein Getreidefeld und eine Schafherde und konnten so durch die Ernte etwas dazuverdienen.
Dakhil: All das haben wir in kurzer Zeit verloren und haben jetzt nichts mehr. Die Angst ist immer noch da und wir hoffen inständig, dass unsere Heimat wieder befreit wird und wir zurückkehren können – auch wenn wir wissen, dass vielleicht nichts mehr da sein wird. Wir beten zu Gott, dass wir eines Tages zurückkehren können. Das ist unser größter Wunsch.
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