Der Rekonstruktion des Indogermanischen und ihrer Geschichte widmet sich Thomas Honegger, Professor für Anglistische Mediävistik an der FSU Jena.
Was war die Sprache von Adam und Eva im Paradies? Welches Idiom benutzte die Schlange, um Eva zu überreden, in den (anscheinend nicht so sauren) Apfel zu beißen? Natürlich Hebräisch – so zumindest die Antwort der mittelalterlichen Gelehrten, denn die Texte des Alten Testaments waren ja in dieser Sprache abgefasst. Und wie kommt es, dass wir zwar (laut biblischer Überlieferung) alle Nachkommen dieses Urpaares sind, aber nicht mehr alle die gleiche Sprache sprechen? Auch auf diese Frage findet man eine schlüssige Antwort in der Bibel: aufgrund der Sprachverwirrung beim Turmbau zu Babel. Um zu verhindern, dass die von Selbstherrlichkeit gepackten Babylonier tatsächlich einen Turm bauen könnten, der bis in den Himmel reicht, zerstörte Gott die ‚sprachliche Einheit’ der Menschen. Dies hatte zur Folge, dass sich die am Bau beteiligten Arbeiter und Architekten nicht mehr miteinander verständigen konnten und der Turmbau zum Erliegen kam. So weit, so gut. Als nun aber im 18. Jahrhundert Gelehrte wie James Parson und William Jones auf die offensichtlichen Ähnlich- und Gemeinsamkeiten solcher Sprachen wie dem Sanskrit, dem Latein, den germanischen, romanischen oder den keltischen Sprachen hinwiesen (cf. das Wort für ‚Vater’: Sanskrit pitā, lateinisch pater, englisch father, dänisch fader, französisch père, altirisch athir), stellte sich die Frage nach dem Ursprung dieser Gemeinsamkeiten. War Gott bei der babylonischen Sprachverwirrung nicht ganz so gründlich gewesen? Parson blieb innerhalb des biblischen Rahmens und führte in seinem 1767 veröffentlichten Buch The Remains of Japhet, being historical enquiries into the affinity and origins of the European languages die Verwandtschaft zwischen gewissen Sprachen darauf zurück, dass diese jeweils von einem der drei Söhne Noahs abstammen. So haben sich Japhet und seine Nachkommen nach der Sintflut in ‚Europa’ niedergelassen, weshalb die europäischen Sprachen alle aus der ‚Familiensprache’ Japhets entsprangen – und unter dem Begriff ‚Japhitic’ zusammengefasst wurden. Das gleiche postulierte er für Sem, der in Asien siedelte und Urvater der semitischen Sprachen wurde, und Ham, der in Afrika seine neue Heimat fand und die hamitischen Sprachen begründete. Dieser ‚biblische’ Erklärungsansatz wurde erst ein paar Jahre später durch die ‚common source’-Theorie des britischen Philologen und Richters William Jones überholt. Er postulierte, dass die (allermeisten) Sprachen zwischen Indien und Europa sich auf eine gemeinsame Ursprache zurückführen lassen. Auf seiner Forschung basiert schließlich der 1810 zum ersten Mal verwendete Begriff der ‚indogermanischen Sprachfamilie’ und des nur über Rekonstruktion erschließbaren ‚Indogermanischen’ (oder ‚Indoeuropäischen’). Damit hat man sich zwar von der eigentlichen ‚Ursprache aller Menschen’ entfernt, aber wenigstens waren die Wurzeln der eigenen Sprache(n) in greifbare Nähe gerückt. In philologischer Detektiv-Kleinstarbeit wurde nun der Wortschatz und die Grammatik der überlebenden indogermanischen Sprachen (Englisch, Französisch, Deutsch, Russisch, Gälisch etc.) verglichen und mögliche gemeinsame Urformen, die linguistische DNA sozusagen, erschlossen. Schleicher, einer der Pioniere der Indogermanistik, verfasste dann 1868 eine kleine Tierfabel in dieser ‚neuen’ Ursprache und gab den geheimnisvollen Indoeuropäern eine Stimme. Die Geschichte beginnt: Avis, jasmin varnā na ā ast, … (auf Deutsch: ‚Ein Schaf, auf dem Wolle nicht ist [d.h. das geschoren wurde] …’).
Seither hat sich (aufgrund neuer Forschungen) das Verständnis des Proto-Indogermanischen immer weiter entwickelt – mit dem Effekt, dass Schleichers Tiergeschichte alle paar Jahrzehnte aktualisiert werden musste. So haben wir aus dem Jahre 2008 eine Version meiner Kollegin Rosemarie Lühr: h2ówis, (H)jésmin h2wlh2néh2 ne éh1est … Auch wenn die Änderungen nicht radikal sind, so haben die mit großer Regelmäßigkeit wiederkehrenden Neufassungen von Schleichers Erzählung dem Indogermanischen den Ruf eingebracht, die sich am schnellsten ändernde Sprache zu sein und jede neue Generation von Indogermanisten erschaffe ihre eigene Version des geschorenen Schafes. Der Paradiesschlange hat jedoch noch nie jemand eine Geschichte in der (wie auch immer gearteten) Ursprache gewidmet … was doch eine schöne Herausforderung für die komparative Sprachwissenschaft wäre.
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