klassiquer: Die Generation, die keine war

Timeline der Generationen (nach Geburtsjahr): Inflation der Generationen?
Timeline der Generationen (nach Geburtsjahr): Inflation der Generationen?

Mit dem Roman Generation X gab Douglas Coupland einer ganzen vermeintlichen Generation eine Stimme. Dabei wollte er doch vor allen Dingen eines: eine Geschichte erzählen.

von Lara

Geschichtenerzählen ist konstruktiver Selbstbetrug. Wer erzählt, spricht von anderen und kann dadurch ohne die Beschränkungen durch Selbstzweifel und unausgesprochene Regeln über sich selbst sprechen. Zwar erzählt Douglas Coupland jedes Mal etwas anderes darüber, was ihn dazu brachte, seinen Vertrag mit zwei Verlagshäusern zu ignorieren und einen Roman zu schreiben, aber vermutlich war es doch die Macht der Geschichten.
Als der damals 30-jährige im Herbst 1989 hinaus in die Wüste fuhr, sollte er eigentlich ein Sachbuch schreiben – eine Art Handbuch, das verwirrten Babyboomern auf unterhaltsame Art ein einfaches, kohärentes Bild davon vermitteln sollte, wie die Generation ihrer Kinder tickt. Stattdessen brachte er nach neun Monaten einen Roman zurück, der diese Aufgabe in einem Ausmaß erfüllte, wie es ein Sachbuch nie vermocht hätte: Generation X – Tales for an Accelerated Culture stellte die „twentysomethings“ ins Zentrum eines weit über die Grenzen Nordamerikas hinausreichenden Pressehypes und machte den Kanadier als Stimme einer irgendwo zwischen Eigenheim und Wirtschaftsabschwung vergessenen Generation weltberühmt. Dabei sollte es in Couplands Debütroman in erster Linie um das Lebensgefühl einer kleinen, von der Öffentlichkeit weitestgehend ignorierten Gruppe junger Leute gehen – und, wie in vielen seiner mittlerweile vierzehn Romane, um das Erzählen von Geschichten.
„Entweder es entstehen aus unserem Leben Geschichten“, äußert eine Protagonistin ganz zu Beginn des Buches, „oder es gibt einfach keinen Weg hindurch“. Um die Geschichten hinter ihrem Leben zu finden, haben sich die Collageabsolventen Andy, Claire und Dag an den Rand der Gesellschaft zurückgezogen. In Palm Springs, Kalifornien, wo es kein Wetter und keine Mittelschicht gibt und die Zeit in der Hitze der Wüste erstarrt zu sein scheint, verdienen sie ihren Lebensunterhalt mit „McJobs“ – unqualifizierten Niedriglohnjobs ohne Ansehen oder Zukunft. In ihrer Freizeit halten sie Picknicks auf verwahrlosten Straßenkreuzungen ab und spielen die Art intellektueller Gedankenspiele, wie sie charakteristisch sind für junge Leute in einer Sinnkrise: Wenn du einen Moment deiner Existenz auf der Erde behalten könntest, welcher wäre es? Woran denkt ihr beim Anblick der Sonne (seid spontan und schön schauerlich)? Wo wirst du dich befinden, wenn die Welt untergeht? Vor allem aber erzählen sie sich Gutenachtgeschichten. Es gibt zwei Regeln: Niemand darf unterbrochen werden und niemand darf lachen. Denn in diesen Geschichten steckt der Kern ihrer Lebensweise und ihrer Ängste.

Portrait einer Subkultur
Dass Couplands Protagonisten wahre Kinder ihrer Zeit sind, wird im Laufe des Buches immer wieder deutlich: Aufgewachsen in einem Land voller Angst – vor Überbevölkerung und Klimawandel, vor Nuklearapokalypse, Wirtschaftsabschwung und der Entscheidung zwischen Pepsi und Coke – schwingt in ihren Gesprächen stets ein Gefühl der Zukunftslosigkeit mit. Ebenso präsent ist der Konflikt mit der Generation ihrer Eltern: Sie hassen die Babyboomer dafür, dass diese in der genetischen Lotterie ein sorgenfreies Leben gewonnen, aber ihren Kindern so wenig gelassen haben; gleichzeitig lehnen sie deren status- und konsumbetontes Leben als leer und sinnlos ab. An die Stelle von Dingen sind Momente und kleine Einsichten getreten – alles im Leben dient der verzweifelten Suche nach Bedeutung.
Doch auch wenn Andy, Dag und Claire Blaupausen eines durch den gesellschaftlichen Kontext geprägten Lebensgefühls und einer real existierenden Subkultur der frühen 90er sind, versucht Generation X selbst nie, sie als Abbild einer gesamten Generation zu präsentieren. Vielmehr beschreibt Coupland sein eigenes Umfeld; vieles ist offensichtlich autobiographischer Natur: Der Autor verfasste seinen Roman selbst in der Wüste von Palm Springs; wie Andy stammt er aus einer Mittelstandsfamilie mit vielen Kindern und wenig Nähe, verbrachte als Student ein Jahr in Japan. Dem Lebensentwurf seiner Protagonisten stellt Coupland andere gegenüber: Da ist Andys jüngerer Bruder Tyler, der in seiner Clique unzertrennbarer und doch austauschbarer Mittzwanziger-Teenager von einer Party zur nächsten geistert und über Shampoo und Markenkleidung spricht; oder Claires deprimierend gut aussehenden Freund Tobias, der in seinem hochdotierten Allerweltsjob nach Gewinn und Kontrolle strebt. Zwar bleiben diese Figuren unter dem stets analysierenden Blick des Ich-Erzählers Andy über weite Strecken Karikaturen einer den Protagonisten entfremdeten Außenwelt, und doch zeigen sie, dass eine Außenwelt existiert und der Subkosmos von Palm Springs nur ein kleiner Teil davon ist.
Als Coupland das fertige Manuskript bei den beiden Auftrag gebenden Verlagshäusern Seal Books in Kanada und St. Martins Press in den USA einreichte, war die Reaktion erwartungsgemäß wenig enthusiastisch. Von der ursprünglichen Idee war bis auf ein dem Text nebenstehendes Glossar aus Ausdrücken und Neologismen zur Sprache der „X-Generation“ nicht mehr viel übrig geblieben. Seal Books kündigte den Vertrag sofort auf; St. Martin Press verschob die Veröffentlichung um ein halbes Jahr, und als das Buch im März 1991 letztlich erschien, war die Auflage halbiert worden und es wurde kaum beworben. Über ein Jahr lang erfuhr man aus kaum einer namhaften Zeitung von seiner Existenz. Dennoch, irgendwie, verkauften sich die Bücher: Mund-zu-Mund-Propaganda an Universitäten verhalf dem Roman zu langsam aber sukzessive steigenden Verkaufszahlen. Es schien, als hätte sich Generation X selbst vermarktet. Dann, im Sommer 1992, kam die Explosion.

Generationen-Inflation
Als die Presse schließlich doch von dem Roman Kenntnis nahm und feststellte, dass viele Leser darin ihr Lebensgefühl wiederfanden, wurde das Buch zur Sensation: Da hatte sich unter all den Yuppies und Ex-Hippies doch tatsächlich eine ganze Generation junger Leute versteckt, die es nun zu charakterisieren und auszuwerten galt. War die „X-Generation“ zwar schon vorher bisweilen in Publikationen aufgetaucht und diskutiert worden, erhielt sie nun die volle mediale Aufmerksamkeit. Coupland wurde zu ihrer Stimme erhoben; zum “prophet”, “patron saint of the under-30 crowd” und “pop philosopher prince”. Und nicht nur die Medien zeigten großes Interesse an dieser vermeintlich neuen Bevölkerungsgruppe: Coupland erhielt Anfragen von jemandem, der Generation X T-Shirts drucken wollte („there is nothing less Generation X than a Generation X T-shirt“, so Couplands Reaktion); Unternehmen baten ihn, Vorträge zu halten, wie sich diese Subkultur am besten erreichen lasse. Das Buch, das als Stimme einer konsumverachtenden Subkultur galt und ein Kapitel mit dem Titel „Ich bin keine Marketing-Zielgruppe“ enthält, hatte eine völlig neue Marketing-Zielgruppe aufgetan, und wirklich jeder wollte daran teilhaben.
Dass der Autor wiederholt betonte, für niemanden als sich selbst zu sprechen, ja sogar bestritt, dass es so etwas wie eine Generation X gebe, tat der Tatsache keinen Abbruch, dass er weitestgehend mit dem Medienphänomen identifiziert wurde. Couplands Image als Schriftsteller balanciert auf dem schmalen Grat zwischen dem Renommee als Autor eines Buches mit hoher gesellschaftlicher Relevanz und der intellektuellen Trivialisierung als Popkultur-Idol. 2010 schaffte er es auf die Liste der “10 Overrated Canadian Authors” der kanadischen National Post – als Einziger, der nie einen Literaturpreis erhalten hatte. Der von ihm geprägte Begriff hingegen behält bis heute seine Präsenz; bis auf X das Y folgte war nur eine Frage der Zeit. Derzeit diskutieren Wirtschaft und Presse über die Folgen des Eintritts der Generation Z – der nach dem Jahr 2000 Geborenen und somit noch nicht einmal Volljährigen – auf den Arbeitsmarkt.
Was nach Abklingen dieses Hypes bleiben wird, ist ein Portrait über Menschen, die ihren Platz in einer geerbten Welt suchen. Darin, und nicht in einer Studie des Zeitgeists, liegt die wahre Stärke von Generation X. Die Gefühle, Probleme und Neurosen, über die Andy, Dag und Claire in ihren Geschichten und Gesprächen reflektieren, sind trotz all ihrer gesellschaftlichen Relevanz auch zeitlos: Es sind die Gefühle, Probleme und Neurosen junger Leute. Ihre Zukunftsängste und ihr Wunsch nach Bedeutung sind nicht das Abbild einer Generation, sondern einer Lebensphase, projiziert auf Umstände und Zeit. In einem BBC-Interview zu seinem Debütroman äußerte der Autor 2010: „I think your twenties bear a lot of disasters no matter who you are. It’s just built into us.” Sein Generation X ist das Portrait einer Sinnkrise. Douglas Coupland hat keine Generation definiert, er hat etwas ungleich länger Währendes erreicht: Er hat aus der Suche nach Geschichten eine Geschichte gesponnen.


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