klassiquer: Kleine Figuren, großer Künstler

Das Marsupilami an einer Düsseldorfer Hauswand (Foto: Johann H. Addicks)

Aus Brüssel kommen nicht nur urinierende Statuen und lästige EU-Verordnungen – es ist auch die Welthauptstadt des Comics. André Franquin, einer der Wegbereiter dieser künstlerischen Tradition, wäre Anfang Januar 90 Jahre alt geworden.

von David

Sein Schwanz kann bis zu acht Meter lang werden und dient als schlag- und würgekräftige Verteidigungswaffe gegen allerlei Feinde. Sein Fell ist gelb mit schwarzen Punkten. Seine Leibspeise sind tropische Früchte, Ameisen und Piranhas. Er ist das Marsupilami, und sein Erschaffer ist André Franquin.
Der Belgier gehörte in den 1950er und 1960er Jahren zu den Stammzeichnern des Comic-Magazins Le journal de Spirou, einem der zentralen Aushängeschilder belgischer Comic-Kunst. Diese entwickelte nach dem Zweiten Weltkrieg eine so große Wirkungskraft, dass zahlreiche europäische Comic-Künstler (unter anderem Astérix-Autor René Goscinny) nach Brüssel zogen. Seit Jahrzehnten gilt der Comic in Belgien als vollwertige Kunstgattung, geradezu als integraler Bestandteil der nationalen Kultur. André Franquin hatte an dieser Entwicklung maßgeblichen Anteil. Ausgerechnet Hergé, der Erfinder von Tim und Struppi und Übervater des modernen belgischen Comics, sagte einmal über ihn: „Er ist ein großer Künstler, und verglichen mit ihm bin ich nur ein armseliger Zeichner.“
Franquin wurde am 3. Januar 1924 in Etterbeek geboren, wo auch Hergé knapp 17 Jahre zuvor auf die Welt gekommen war. Nach einer Ausbildung an einer katholischen Kunstschule begann er zunächst, in einem Animationsfilmstudio zu arbeiten. Dort lernte er die Zeichner Morris (der spätere Lucky Luke-Schöpfer) und Peyo (der bald die Schlümpfe erfand) kennen. Als das Studio kurz nach dem Weltkrieg pleite ging, fanden alle drei eine Anstellung beim Magazin Spirou. Dessen Hauptzeichner Jijé war zu diesem Zeitpunkt mit den vielen Serien des Magazins völlig überfordert, und überließ dem jungen Franquin die weitere Ausgestaltung der 1938 lancierten Spirou & Fantasio-Reihe. Nach und nach prägte er sie mit seinem Stil und bereicherte sie um viele neue Nebenfiguren: unter anderem eben das Marsupilami. Ob Abenteuergeschichten, Krimi-Szenarien, Dinosaurier-Fantasy, Komödie, ätzende Polit-Satire oder Thriller – Franquin verhalf der Serie zu einer beeindruckenden Genre-Vielfalt.
Mit ihr hat er auch seinen persönlichen Stil weiterentwickelt: eine hochgradig expressive Figuren-Mimik, eine beeindruckend plastische Räumlichkeit, eine minutiöse und detailreiche Gestaltung von Hintergründen. Besonders wird Franquin für seine Fähigkeit, Bewegung sichtbar zu machen, gelobt. Die Spirou & Fantasio-Reihe führt ihn aber 1961 zu einem schweren Nervenzusammenbruch: permanenter Termindruck, zunehmende Frustration mit der Spirou-Serie und starke künstlerische Selbstzweifel zollen ihren Tribut – Franquin wird für fast anderthalb Jahre arbeitsunfähig.
Nach seiner Genesung gibt der Belgier Spirou & Fantasio an einen Nachfolger ab, und widmet sich verstärkt jener Lieblingsfigur, die er 1957 erfunden hat: Gaston Lagaffe. Der tollpatschige Büroangestellte, der in der Redaktionsabteilung eines Comicmagazins arbeitet, wird auch zu Franquins Sprachrohr in gesellschaftlich-politischen Belangen. Denn der anarchische Gaston sorgt nicht nur auf humorvolle Weise für Trubel im Redaktionsalltag. Der große Tierliebhaber setzt sich auch für den Schutz von Fauna und Flora ein, und führt einen permanenten und irrsinnig witzigen Kleinkrieg gegen alle möglichen Autoritäten – sei es die Armee, die Polizei oder Parkuhren.
Nach einem erneuten depressiven Zusammenbruch Anfang der 1980er Jahre zieht sich Franquin weitestgehend zurück. Er wirkt als Berater beim Marsupilami-Spinoff und zeichnet noch gelegentlich Gaston-Geschichten. 1997 stirbt er in Nizza. Seine Figuren leben natürlich weiter, und dank zahlreicher Übersetzungen nicht nur in den Herzen französischsprachiger Leser. Wer in Brüssel vom Hauptbahnhof aus einige Minuten geht, wird rasch die Grasmarkt-Straße finden, der die Stadt mit einer Ehrenplakette einen alternativen Namen verliehen hat: Gaston Lagaffe-Straße.

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