Zum Phänomen der revolutionären Lethargie
von fabik
Rosa sitzt auf einer kleinen roten Filzcouch in der Küche unserer WG. Bedächtig gestikulierend erzählt sie von einem interessanten Artikel, den sie neulich auf Telepolis gelesen hätte: Wie Benutzerinformationen im Web 2.0 für Marketingzwecke missbraucht werden und dass sie nun auch am Holzmarkt eine nicht ausgewiesene Überwachungskamera entdeckt habe. Rosa redet sich schnell in Rage, wenn es um solche Themen geht: Finanzkrise, Nestlés Kaffeekartell und ob ich denn meinen Apfel nicht abwasche wegen der Chemikalien – er sei zwar Bio, aber trotzdem! Während wir so unsere Google-Video-Erkenntnisse hin und her assoziieren, scheint es oft, als ob das einzige Hindernis für die unausweichliche Revolution die Frage sei, ob diese nach Trotzki oder Proudhon zu verlaufen habe, ob mit den Mitteln Ghandis oder Ches, bis doch der Streit ums Aspartam im Multivitaminsaft die kleine Intellektguerilla wieder entzweit.
Revolutionärer Anspruch vs. lethargische Wirklichkeit
Es war wohl schon immer Teil einer spätjugendlichen Protestkultur vorwurfsvolle Debatten über die Ungerechtigkeit in der Welt zu führen. Über Imperialismus und Elend, über Extremismus und Leid, über Unterdrückung und Kapitalismus. Stundenlange Diskussionen, in denen man endlich den Kampfbegriffen seiner Jugend durch die Verflechtung mit den neusten Ismen aus dem Soziologiestudium weltrevolutionären Ausdruck verleihen konnte. Wer weiß, in wie vielen WG-Küchen der Welt schon die Grundübel unseres Daseins in ihre Einzelteile zerlegt wurden, um sie dann gedanklich in ihr Gegenteil zu verkehren? Doch während sich auch von den Blechsiedlungen um Johannesburg bis zu den frisch gewienerten Studierstübchen im Sarah-Lawrence-College Che und Malcom X um die Plakat-Führerschaft auf den Gemeinschaftstoiletten streiten, ist es schwer vorstellbar, dass irgendwo auf der Welt revolutionärer Anspruch und lethargische Wirklichkeit weiter auseinander klaffen als in Jena.
Jena – bekannt für Waffen und Faschisten
Jena, eine Stadt, in der Magnus Poser 1942 seine antifaschistische Widerstandsgruppe gründete und dies schließlich mit dem Leben bezahlte, ist heute zum Anlaufpunkt tanz- und hetzwilliger Faschisten aus ganz Europa verkommen. In einer Stadt, die sich so gern der Lebhaftigkeit ihrer linken Studentenschaft rühmt, stellten mit 800 Menschen nicht Studenten, sondern 10-18jährige Schüler die größte Demonstration im vergangenen Jahr auf die Beine. In einer Stadt, in der vor jedem „Fest der Völker“ tausende Flyer, dutzende Konzerte und eben diese WG-Küchen-Gespräche zum Sitzblockadenkampf gegen den Faschismus einladen, verbringt regelmäßig der überwiegende Teil der Studentenschaft die Semesterferien mit seinem antifaschistischen Kampf im mütterlichen Kinderzimmer vor der Hausarbeit über Friedrichs Totalitarismustheorie. Aus einer Stadt, die sich so gerne ihrer Ausländerfreundlichkeit und Internationalität rühmt, beliefern Carl Zeiss und Jenoptik heute Armeen in aller Welt mit Hochpräzisions-Ausländervernichtungstechnologie.
Die Diktatur der Proleten
Kaum eine Hochschulgruppe, die nicht jedes Semester aufs Neue um ehrenamtliche Mitarbeiter und damit ums Überleben kämpfen muss. Kaum eine studentische Initiative, die nach wenigen Monaten nicht entnervt wieder aufgibt, weil vor dem Kampf um mehr studentische Mitbestimmung erst der scheinbar aussichtslose Kampf gegen die Flyer-Armeen von Uma Carlson und F-Haus zu gewinnen ist. Kaum ein rastahaariger Student, der vor der Entscheidung für dieses oder jenes Engagement seine Entscheidung nicht noch mit den leeren Lücken im Softskill-Teil seines Lebenslaufes abgleicht. Und kaum eine WG-Couch, auf der einem nicht der Eindruck vermittelt wird, die Diktatur des Proletariats stünde unmittelbar bevor, bevor der Abend dann doch als Diktatur der Prolls in der Rose endet.
Bei aller bierseligen Dauerindoktrinierung zwischen Lutherstraße und Damenviertel steckt wohl in den seltensten Fällen hinter dem auf WG-Küchen-Sofas, buttonbeschmückten Rucksäcken, posterbehangenen Wohnungstüren und Endlos-Gutmensch-StudiVz-Gruppenlisten präsentierten Weltverbesserungsdrang die Erkenntnis, dass die bessere Welt sich nicht herbeipalavern lässt. Stattdessen scheint der alltäglich ausgetragene Klassenkampf mehr zur quichott‘schen Version einer spätpubertären Verteidigungsschlacht geworden zu sein. Ein Kampf gegen die unausgesprochene Gewissheit, dass man selbigen spätestens mit dem letzten Pauschalurlaub in Sharm el-Sheikh oder dem Erasmusbesäufnis in Linköping aufgegeben hat. Der vermeintlich revolutionäre Kampf richtet sich längst nicht mehr gegen das ausbeutende Bürgertum, sondern wird zum letzten symbolischen Aufbäumen gegen die unvermeidliche Bourgeoisierung seiner selbst.
Widerstand – oder um es etwas gemäßigter auszudrücken: – Engagement darf eben kein Phänomen einer sich elitär absondernden Alltagskultur sein. Wenn dieses Dagegen-Sein lediglich zu einem weiteren schwarz-roten Button auf der überfüllten Kapuzenjacke wird, wenn es zu weiteren moralisierenden Endlosgesprächen auf der heimischen Küchencouch führt, wenn es nicht mehr bedeutet als die Frage, ob ich im StudiVZ ganz austrete oder nur alle Einstellungen auf anonym setze, dann ist es nichts anderes als aufgeregte Gleichgültigkeit. Und wer denen dort oben und da unten die Schlechtigkeit der Welt vorwirft, muss sich fragen lassen, ob man es ihnen nicht ziemlich einfach macht. Klar, die Welt ist schlecht – keine Frage. Und wie schlecht sie ist! Doch lässt sich mit noch so vielen Kampfbegriffen und Google-Videos daran so lange nichts ändern, wie Rosa nicht von ihrer kleinen roten Couch aufsteht.
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